Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
verteidigte diese Errungenschaften jahrzehntelang ohne Rücksicht auf Kontexte – weit über das übliche Verfallsdatum für Illusionen hinaus. Inzwischen holen die veränderten Verhältnisse sie ein. Die Zerrüttung französischer Diskurskultur drückt sich nicht zuletzt in der Tatsache aus, daß die Linke seit vielen Jahren kein wirklich ideenreiches Buch mehr hervorbrachte – um von neuen Perspektiven und Personen zu schweigen. Was blieb, war allein die romantisch-polemische Grundhaltung, die ihre Adepten wie in den alten Tagen auf Militanz und Differenz schwören läßt. Unübersehbar war die geistige Dekomposition während der letzten Jahre bei den nationweit ausgreifenden medialen Treibjagden auf vermeintliche Konvertiten oder Verräter der fortschrittlichen Sache, die man nach scheinmoralischen Schauprozessen auf der Place de Grève der öffentlichen Meinung hinzurichten versuchte. Externen Beobachtern galten diese Attacken gegen die hämisch so genannten Neuen Reaktionäre beziehungsweise neuerdings die conservateurs als untrügliche Indizien dafür, daß die französische Linke, reduziert auf einen hilflosen und hysterischen Progressismus, längst in der Kälte steht und sich nur noch an Strohfeuern die Hände wärmt. Die Analogie zu den deutschen Skandalphänomenen der letzten anderthalb Jahrzehnte springt ins Auge – denn auch hierzulande konnte das dominante linksliberale Feuilleton seine zunehmende Weltfremdheit nur durch erhöhte moralische Aufgeregtheit kompensieren. In demselben Zusammenhang war der nicht zu vernachlässigende linke Stimmenanteil im französischen Nein beim Referendum über die europäische Verfassung symptomatisch. Wer la belle France und ihre von Lebenskunst und Generosität geprägte Kultur schätzte und liebte, tat damals gut daran, aus Kummer über das überwiegend klägliche Niveau »nonistischer« Propaganda den Mantel des Schweigens über diese Erscheinungen zu breiten.
Dennoch wäre es aufs ganze gesehen ungerecht, der französischen Linken eine ausschließlich negative Bilanz bei der Nachkriegsarbeit an der Reevaluierung des nationalen Decorums zu bescheinigen. Sie hat vor allem dank ihrer gemäßigten Sprecher eine Reihe authentischer metanoetischer Leistungen vorzuweisen, die selbst dann von Bedeutung bleiben werden, wenn sie, eingeklemmt zwischen den rivalisierenden Systemen erfolgreicher, allzu erfolgreicher Kriegsergebnisfälschung, nie einen hegemonialen Status erlangten. In diesem Kontext kommt der bitteren Niederlage Albert Camus’ gegen Jean-Paul Sartre in den fünfziger Jahren ein bezeichnender Stellenwert zu. Sie verrät den prekären Status der Energien, die in Frankreich auf eine genuine geistige Abwendung von gescheiterten ideologischen Traditionen zielten. Stimmen wie die von Camus wollten eine Theorie des menschlichen Maßes und der symbolischen Bedingtheit der Existenz zur Geltung bringen, während ringsum ein neo-revolutionärer Symbolismus und ein extremistischer Surrealismus ins Kraut schossen. Mit aller Macht bemühten sich die Autoren der radikalen Tendenz, den Glauben am Leben zu halten, gerade die Niederlage von 1940 habe bewiesen, die Welt brauche nichts dringender als französische Ideen, zumal nachdem diese zur Kräftigung ein stalinistisches oder maoistisches Bad genommen hatten.
Aus späterer Sicht ist überdeutlich, daß es Camus war, der schon in den späten vierziger Jahren auf die richtigen Fragen die richtigen Antworten gegeben hatte. Er war es, der nach den Gewaltexzessen der ersten Jahrhunderthälfte unkorrumpierbar an das irdische Maß erinnerte und die unverhandelbare Verbindlichkeit zivilisierender Besinnung hochhielt. »Jeder sagt dem anderen, er sei nicht Gott, da geht die Romantik zu Ende« – mit diesem Satz, den man am Ende des von vielen Kommentatoren auf dem extremen Flügel verspotteten und verdammten Buchs L’homme révolté aus dem Jahr 1951 findet, hatte er das Axiom aller metanoetischen Arbeit im Schatten der Katastrophe artikuliert. Camus war es, der die großen europäischen Versöhnungsworte nach dem Krieg geschrieben hatte: »Das Unglück ist heute das gemeinsame Vaterland.« Sartre indessen spielte nach 1945, durchwegs aus sicherer Distanz, mit dem Feuer der bewaffneten Revolte – von seinem fatalen Vorwort zu Frantz Fanons antikolonialistischem Gewaltmanifest Die Verdammten dieser Erde von 1961 bis hin zu seinem trotzigen Besuch in Stammheim, wo er zu seiner Enttäuschung einen Schwachkopf namens Baader
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