Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
kulturbiologischen Gründen. Ja, es erscheint ihnen als eine arge Zumutung, anerkennen zu sollen, die Arbeit der Deutschen an sich selbst habe zu vorzeigbaren Resultaten geführt. Kehrt man den Winkel der Betrachtung um, so darf man die beharrliche Fortexistenz der Normalisierungsverweigerer ihrerseits als ein Erfolgszeichen interpretieren. Nichts wäre in Deutschland unnormaler, als wenn alle gleichzeitig mit narzißtischem Lärm die Schwelle zu einem gesund sein wollenden Patriotismus überschritten. Von der deutschen Annäherung an die psychopolitische Normalität ist folglich eine gewisse Einkrümmung in sich selbst nicht wegzudenken. Zu deren Artikulation rechnet die Arbeitsteilung zwischen denen, die jetzt etwas unbefangener mit der Lizenz zur Selbstliebe experimentieren und von den neuen Möglichkeiten der metanoetisch gefilterten Affirmation Gebrauch machen, und jenen, die jeder Regung dieser Art ihren tief habitualisierten Widerwillen entgegensetzen. 6
Wenn diese Überlegungen in die richtige Richtung zielen, dann dürfte aus ihnen der Schluß gezogen werden, die lange Serie der landesüblichen Skandalisierungen, die von Botho Strauß’ Essay Anschwellender Bocksgesang und Hans Magnus Enzensbergers Aussichten auf den Bürgerkrieg , beide von 1993, über Martin Walsers Paulskirchenrede im Herbst 1998 bis zu Günter Grass’ öffentlichen Waffen- SS -Geständnissen im Jahr 2006 reicht, müsse sich aus sachimmanenten Gründen demnächst erschöpfen. Die »Sache selbst«, aus deren inneren Gesetzen diese Erregungen hervorgingen, nämlich die psychopolitische Verfassung der Bundesrepublik, ist im Lauf des letzten Jahrzehnts unverkennbar in einen neuen Aggregatzustand eingetreten. Dieser macht die Wiederholung der bisherigen Stürme zunehmend unwahrscheinlich – womit nicht gesagt sein soll, die nach wie vor semi-totalitär wirksamen Medien würden künftig auf ihre Vollmacht verzichten, symbolische Lynch-Aktionen und opportunistische Massenpsychosen vom Zaun zu brechen.
Was ich hier als die kritische »Sache« bezeichne, ist nichts anderes als der seit längerem absehbare Eintritt Deutschlands ins manifeste Stadium seiner Normalisierung – wobei man durchaus zugeben kann, daß es sich, nach einer langen Deformationsgeschichte, um eine paradoxe erstmalige Normalität handelt. Man möge in die Ausdrücke »Normalität« und »Normalisierung« nicht zuviel hineinlesen. Da von einem »entwickelten« Land des Westens die Rede ist, weist es zugleich die für seine Entwicklungsstufe typischen Paradoxien auf – und ob es in einer kapitalgetriebenen Welt überhaupt so etwas wie stabile Normalitäten geben kann, haben wir hier nicht zu untersuchen. Was die erwähnte Skandalserie angeht, so ergibt sie letztlich nur Sinn, wenn man sie als eine Kaskade von Übergangskrisen versteht, mit denen die Hochspannung der deutschen Nachkriegsarbeit an sich selbst auf mittlere Werte heruntergefahren wurde. 7 Sie kündigten die Auflösung des permanenten metanoetischen Ausnahmezustands und seine Überführung in gewöhnliche alltagspatriotische Verhältnisse an.
Für einen solchen Übergang mochte es typisch gewesen sein, wenn in seinen Krisen ausgerechnet die Namen von Autoren strittig wurden, die während der deutschen Nachkriegsarbeit an uns selbst als die sichersten neuen Integritätsgaranten galten – ich denke hier vor allem an Martin Walser und Günter Grass. Aber während Grass jüngst nur von den Überspitzungen seines eigenen Moralismus eingeholt wurde, dessen zuweilen etwas hohlen Klang wahrzunehmen man sich plötzlich in nachträglicher Entrüstung erlaubte, zog Walser ein sehr viel heftigeres und gründlicheres Ressentiment auf sich, falls Ressentiment gründlich sein kann. Dies geschah, weil er sich etwas früher als andere – für viele sogar viel zu früh, unanständig früh – die Freiheit genommen hatte, überhaupt die Möglichkeit einer Normalisierung in Aussicht zu stellen – was am Hypermoral-Standort Deutschland nicht ohne weiteres hinzunehmen war. Der Konflikt deutete sich erstmals in den achtziger Jahren an, als Walser die schöne Unklugheit beging, die deutsche Wiedervereinigung zu einer wünschbaren Option zu erklären – sein Hinweis erwies sich bald darauf als eine Prophezeiung, deren Erfüllung ihm viele nicht verzeihen wollten. Und es geschah noch einmal, als er kurz vor der Jahrtausendwende das noch unklügere Wagnis einging, eine intimistische, literarisch obertonreiche Sonntagsrede an die
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