Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Hintergrund dieser Bemerkungen über die französischen und deutschen Nachkriegszeiten sowie der dabei zutage geförderten Differenzen in der Bewertung und Integration der Kriegsergebnisse gehe ich nun der Frage nach, was aus heutiger Perspektive in einer kulturtheoretisch fundierten Rede über die Lage der beiden Nationen festzuhalten wäre. Um mit dem französischen Fall zu beginnen, wäre aus der Sicht von 2007 vor allem eines hervorzuheben: Der gallische Krieg um die politische und ideologische Aneignung der Libération ist entschieden. Das Resultat liegt auf der Linie der durchschnittlichen psychopolitischen Plausibilitäten. Mit zunehmender Entfernung von den kritischen Ereignissen hat sich auf breitester Front eine post-gaullistische gemäßigte Rechte durchgesetzt, die man nur deswegen das »bürgerliche Lager« zu nennen zögert, weil niemand mehr mit Bestimmtheit zu sagen vermag, was das Wort »bürgerlich« unter heutigen Bedingungen bedeuten soll. Die in Frankreich zur Zeit ungewöhnlich massiven Mitte-Rechts-Strömungen bewirtschaften – in sicherem Abstand zu den pathetischen Spannungen der ersten Nachkriegszeit – ganz routiniert den alltäglichen politischen Narzißmus, von dem wir wissen: Er liefert in allen nicht-neurotischen Völkern den Stoff, aus dem die Patriotismen sind.
Damit könnte der Rest Europas, auch der »Nachbar« Deutschland, in Ruhe leben, hätte nicht das gaullistische Strukturerbe ein durchaus gefährliches Eigenleben entwickelt: Dieses reicht vom kaum verhüllten Unilaterismus der französischen Nukleardoktrin 5 über die europafeindlichen Tendenzen des französischen Souveränismus bis hin zu den sub-imperalistischen Spielen der französischen Armee in Afrika und Übersee. Am bedenklichsten ist das hysterogene Potential, das aus der Liaison des Präsidentialismus mit dem Medienpopulismus erwächst – ein Potential, auf das schon de Gaulle als politischer Nietzscheaner und Illusionist im Dienste des Ganzen virtuos zurückgriff. Selbst in ihren verflachten Profilen bildet die Erbmasse des Gaullismus ein für Europa nicht berechenbares Risiko, und die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft werden gut daran tun, das Experiment Sarkozy, für das sich die Franzosen im Mai 2007 entschieden haben, aufmerksam zu verfolgen. Nachdem der neue Präsident jüngst hat lernen müssen, daß eine Cecilia Ciganer doch keine zweite Jacky Kennedy sein kann, wäre die nächste Lektion für ihn die, daß in Europa, anderslautenden Suggestionen zum Trotz, für ein Weißes Haus definitiv kein Platz ist. Will er unbedingt Größe zeigen und Frankreich zeitgemäß umbauen, könnte er die überfällige post-gaullistische Verfassung einführen und als der erste Mann der Sechsten Republik Schlagzeilen machen.
Der klare Ausgang des neu-gallischen Krieges um die Deutung der Libération enthält überdies eine ideologiegeschichtlich bemerkenswerte Note. Zahlreiche Beobachter sind in jüngster Zeit einhellig zu der Feststellung gelangt, daß die vormals so ausstrahlungsmächtige französische Linke nach einer länger anhaltenden Schwächephase (deren Beginn man bis auf Mitterrands letzte Jahre zurückdatieren muß) binnen kürzester Frist ins nahezu Bedeutungslose abgestürzt ist. Diesen Vorgang, der jüngst an den Urnen manifest wurde, begleitet eine intellektuelle Erosion ohnegleichen. Deren Auslegung durch die Betroffenen selbst läßt stark zu wünschen übrig (man redet seit einer Weile gern vom »Untergang« der Großen Nation, als ob Frankreich in einer kalten Nacht mit einem Eisberg kollidiert wäre), und diese Unbeholfenheit überrascht angesichts der Vorgeschichte nicht. Dennoch stellen die neue theoretische Nullität des linken Lagers in Frankreich und seine vollständige praktische Desintegration für den Mentalitäts- und Ideenhistoriker eine nicht unwichtige Denkaufgabe dar.
Unter Verweis auf das oben Gesagte wird plausibel, wieso die Implosion des linken Feldes in Frankreich keineswegs nur auf die lokale Aneignung des neokapitalistischen oder postpolitischen Zeitgeists zurückgeht, der seit gut zwanzig Jahren alle westlichen Nationen beeindruckt. Es handelt sich bei diesem Phänomen entsprechend der hier entwickelten Sicht vielmehr um den finalen Zusammenbruch des pseudo-metanoetischen Systems, mit dem sich die französische Linke falsche Siege und phantomatische Souveränitäten auf dem Feld der aufgewühlten Nachkriegsaffekte und Nachkriegsdiskurse zu verschaffen gewußt hatte. Sie
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