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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Entscheidung huldigte, wie sie für die jüdisch-griechische Kultur und ihre moderne Enkelkultur charakteristisch ist, so blieb er stets auf den ägyptischen Immortalismus, in sehr viel geringerem Maß auch auf den christlichen, bezogen. Dieser Bezug war aber nicht nur aufklärerisch oder exorzistisch. Derrida wollte nicht allein die Geister der immortalistischen Vergangenheit austreiben, vielmehr war es ihm darum zu tun, die tiefe Ambivalenz offenzulegen, die aus der Einsicht in die Gleichmöglichkeit und Gleichmächtigkeit beider Entscheidungen folgt. Daher das Pathos seiner Bekenntnisse, nach welchen man nie ganz aus dem Kreis der Metaphysik heraustreten könne. Im Grunde jedoch beharrt Derrida immerfort auf seinem Recht, sein metaphysisches Incognito zu wahren – er möchte nicht, daß in seinem Paß unter der Rubrik »unveränderliche Kennzeichen« eine Eintragung stünde wie »jüdischer Verneiner der Unsterblichkeit« – und erst recht nicht »kryptoägyptischer Anhänger der Todesüberwindung«.
     
    Man kann demnach Derrida in gewisser Weise als einen Freiheitsphilosophen betrachten, der freilich nicht in der Linie der alteuropäischen Idealismen steht. Seine diskrete Idee von Freiheit ist untrennbar von der Anstrengung, sich immer von neuem aus den zunächst unvermeidlichen Identifizierungen und Festlegungen zurückzuziehen, die mit dem Gebrauch bestimmter Idiome verbunden sind – weshalb übrigens manche Interpreten in ihm einen Neo-Skeptiker erkennen wollten, der dem Duktus der Schule gemäß das Schweben zwischen den Meinungen zur höchsten intellektuellen Tugend erklärt habe. Wenn aber Skepsis fürs erste nur den Unwillen ausdrückt, sich zwischen den verschulten Lehrsystemen der Antike (dem platonischen, dem aristotelischen, dem stoischen und dem epikuräischen) zu entscheiden, dann ist Derrida kein bloßer Skeptiker. Seine konstitutive Schwankung bezieht sich nicht auf alternative philosophische Doktrinen, sondern auf die vorphilosophische Entscheidung der Todesantinomie – und in diese Schwankung ist die zugleich notwendige und unmögliche Wahl zwischen Metaphysik und Nicht-Metaphysik einbezogen.
     
    Der Ausdruck Schwankung darf natürlich nicht als eine persönliche Unentschiedenheit verstanden werden – er deutet vielmehr darauf hin, daß hier eine Wahl vorliegt, deren Pole vom Wählenden nach beiden Seiten überblickt werden können. Trifft der Denker seine Entscheidung, so spürt er nicht nur das Unrecht, das er gegen die abgewiesene Option begeht, er bemerkt auch sogleich, wie sich die Falle um ihn selber schließt. Wer gewählt hat, setzt sich dem Risiko der Identifizierung aus, und eben um dessen Vermeidung war es Derrida stets vordringlich zu tun. Vielleicht darf man die Dekonstruktion vor allem als ein Verfahren zur Verteidigung der Intelligenz gegen die Folgen der Vereinseitigung ansehen. Sie käme dann dem Versuch gleich, die Zugehörigkeit zur modernen Stadt der Sterblichen mit einer Option für den ägyptischen Immortalismus zu verbinden.
     
    Wenn aber der dekonstruktive Gebrauch der Intelligenz eine Prophylaxe der Vereinseitigung ist, so muß sich deren erfolgreiche Ausübung gerade bei der Vorbereitung des eigenen Endes geltend machen. Der Philosoph, der als nicht-identifiziertes denkendes Objekt seinen Schülern, seinen Freunden, seinen Gegnern als stets antwortbereiter präsenter Partner gegenüberstand, war um der Wahrung seiner souveränen Unentschiedenheit willen dazu verurteilt, sich selbst, für die Zeit seiner Abwesenheit, die Option auf ein doppeltes Begräbnis offenzuhalten. Das eine sollte in der Erde des Landes stattfinden, das er kritisch bewohnt hatte, das andere in einer kolossalen Pyramide, die er sich selbst durch lebenslange Arbeit am Rande der Wüste der Buchstaben erbaute.

    5 Régis Debray und Derrida
    Seit dem Tode Hegels ist die Rede vom Ende der Philosophie zu einem festen Topos in dem fortgehenden Gespräch über die Philosophie geworden. Im nachhegelschen Kontext bedeutete das Wort »Ende« vor allem Vollendung und Erschöpfung. Die Nachfolgenden schienen daher nur die Wahl zu haben, sich mit ihrer epigonalen Lage abzufinden oder originell zu werden, indem sie etwas ganz anderes machten. Um 1900 trat mit den Lebensphilosophien der Versuch hervor, diese Alternative zu überwinden – nun wollte man die Epigonalität in geistphilosophischer Hinsicht mit Originalität in Hinsicht auf das vitale Substrat des Denkens, eben das Leben, kombinieren. Auf diese

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