Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
Vom Netzwerk:
polis und der empirischen communio Kopf und Hände frei haben.
     
    Aus den Überspannungen des Zugriffs politischer Bürgerschaften auf das Leben der Sterblichen mußte sich, Borkenau zufolge, eine neue immortalistische Reaktion ergeben – sie führte, vermittelt durch ein barbarisches Zwischenspiel, das christliche Zeitalter in Westeuropa herauf. Die »christliche Kultur« (man ist nicht sicher, ob der Kulturbegriff hier sehr glücklich gewählt ist) stellt aufgrund ihrer Neubetonung der Unsterblichkeit ganz offensichtlich eine Enkelkultur des Ägyptizismus dar, obschon sie den Akzent nun eindeutig auf die Unsterblichkeit der Seele setzt – allein im katholischen Reliquienkult kam die ägyptische Sorge um den ewigen Körper zu einem indirekten Nachleben. Auch der christliche Immortalismus rief jedoch, dem Borkenauschen Schema gemäß, aufgrund seiner Exzesse erneut die Gegenthese hervor: Die mit der Renaissance einsetzende Neuzeit ist von neuem eine Kultur der Todeshinnahme und bewirkt wieder die Investition menschlicher Energien in politische Projekte. (Zu diesen gesellt sich, dem technischen Grundzug der Moderne entsprechend, jene Allianz von Ermächtigung und Erleichterung des Lebens, aus dem die aktuelle Konsumgesellschaft hervorgehen sollte.) Die Moderne wäre also in der Filiationsreihe der Kulturen die Enkelkultur der Antike (und eo ipso die Urenkelkultur Ägyptens). Ihre gemeinsame Option für die Todeshinnahme lieferte demnach den tieferen Grund für die oft bemerkte Resonanz zwischen ihnen. In dieser Wahl wären die Motive zu finden, derentwegen ein paradigmatischer Autor der Moderne wie Freud sich in der Gesellschaft antiker Philosophen stoischer, epikureischer und skeptischer Schule so spürbar wohlfühlte.
     
    Der Reiz des Borkenauschen Modells liegt offensichtlich nicht so sehr in seiner historischen Erklärungskraft, die offensichtlich prekär bleibt; auch sein Anspruch, eine Alternative zu Spengler zu bieten, dürfte heute kaum noch attraktiv sein. Was diese spekulativen Erwägungen zur Todesantinomie aktuell und fruchtbar macht, ist die Tatsache, daß sie den Übergang von einer metaphysischen zu einer nach-metaphysischen Semantik nicht als evolutionären Fortschritt oder logische Vertiefung darstellen. Sie erklären sie vielmehr zum Effekt einer unvermeidlichen epochalen Schwankung, die in einer objektiv unauflöslichen Antinomie beziehungsweise einer unvermeidlichen und irreduziblen Doppelwahrheit gründet. Die Position Derridas innerhalb dieser Schwankung scheint zunächst der bei Sigmund Freud zu beobachtenden zu gleichen, die sich eindeutig beim modernen Extrem (und seinen antiken, jüdischen und hellenischen Allianzkulturen) plaziert. Was der Philosoph die Dekonstruktion nennt, ist ja zunächst nichts anderes als ein Akt der gründlichsten semantischen Säkularisation – sie ist semiologischer Materialismus im Vollzug. Man könnte das dekonstruktive Verfahren als eine Anleitung zur Übergabe der Kirchen und Schlösser des metaphysisch-immortalistischen ancien régime in die Hände der bürgerlichen Sterblichen beschreiben.
     
    Das Merkwürdige an dem Procedere ist jedoch, daß Derrida – um im architektonischen Bild zu bleiben – nicht an die Kraft der Modernen glaubt, authentische Neubauten aufzuführen. (Wie aus seinen Gesprächen mit Peter Eisenman und mit der Wiener Architektengruppe Coop Himmelblau im übrigen ziemlich eindeutig hervorgeht, ist er der Welt der modernen Architektur zeitlebens ferngeblieben und verwendete Ausdrücke wie konstruieren/dekonstruieren rein metaphorisch, ohne je einen materialen Bezug zur Praxis der Errichtung von wirklich zeitgenössischen, das heißt entzauberten, historisch unbelasteten Gebäuden zu entwickeln.) Er schien der Annahme zuzuneigen, wonach Menschen, symbolisch gesprochen, immer zum Wohnen in Altbauten verurteilt sind – und mehr noch immerzu Spukschlösser bewohnen, selbst wenn sie der Meinung sind, in den neutralen Gebäuden der Gegenwart zu residieren. Für ihn ist ausgemacht, daß auch in den Wohnungen der Modernen die Untoten aus der Jenseitsära ein und aus gehen, ganz so wie der Eine Gott aus Ägypten nie aufhörte, seinen Schatten über die Hütten der postmosaischen Juden zu werfen.
     
    Die Tugend des Borkenauschen Modells besteht in meinen Augen unter anderem darin, daß es die Komplexität von Derridas Position etwas deutlicher zu erkennen hilft. Denn obwohl Derrida im modus operandi seiner Arbeiten der mortalistischen

Weitere Kostenlose Bücher