Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Weise glaubten die Vitalisten, die Philosophie durch einen philosophischen Abschied von ihr zu retten. Es ist bekannt, wie Heideggers Intervention diesen Ansatz sprengte, um der These vom Ende der Philosophie ihre fatale Bedeutung zu nehmen. Was wirklich ans Ende gekommen war, das war, nach Heidegger, die Ära der Philosophie als Metaphysik oder Ontotheologie. Älter und jünger als die Metaphysik jedoch wäre das Denken als das Fragen nach dem Sinn von Sein. Die Destruktion der Metaphysik wollte nicht nur einen anderen Anfang des Denkens in einem tieferen Altertum offenlegen, sondern auch eine andere Fortsetzung des Denkens in einer aktuelleren Aktualität ermöglichen. In deren Zentrum findet Heidegger das Tun und Leiden der Sprache, wobei er die wesentliche Sprache als die befehlende Proklamation des Seins auslegt. Daher der Satz: Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache – man müßte wohl, um der Deutlichkeit willen, sagen: Sein, dem gehorcht werden kann, ist Sprache. Man begegnet somit bei Heidegger einer metaphysisch gefärbten Form des linguistic turn , der die Philosophie des 20. Jahrhunderts beherrschte. Wie man weiß, hat Derrida, indem er die Wende von der Sprachphilosophie zur Schriftphilosophie vollzog, auch in Heideggers Unternehmen noch Reste einer Metaphysik der Präsenz aufgedeckt – er hat den Idealismus des Seinsdenkens als eine letzte Metaphysik des starken Absenders decouvriert und damit die Serie der Beendigungen der Philosophie mit den Mitteln der Philosophie wohl erst wirklich zum Abschluß gebracht. Von da an lesen wir die Texte der Ideengeschichte als Befehle, denen wir nicht mehr gehorchen können. Derrida bemerkt bei einer Gelegenheit, seine Grundhaltung gegenüber den Schriften und Stimmen der Klassiker sei bestimmt durch »eine seltsame Mischung aus Verantwortungsgefühl und Gehorsamsverweigerung« ( un mélange bizarre de responsabilité et d’irrespect ) – die vollkommenste Charakterisierung der postautoritären Rezeptivität, die für die Derridasche Ethik des Lesens bezeichnend war.
Unter den Autoren der Gegenwart, die Konsequenzen aus dieser Situation gezogen haben, ragt Régis Debray in markanter Weise hervor. Früher als viele andere scheint er verstanden zu haben, daß das philosophische Geschäft nach einem Paradigmenwechsel verlangt. Wenn das letzte Wort der an ihre Ränder getriebenen Philosophie »Schrift« gelautet hatte, so mußte das nächste Wort des Denkens »Medium« heißen. Indem Debray die französische Schule der Mediologie ins Leben rief – die sich von der etwas älteren kanadischen durch ihre tiefer ansetzende politische Orientierung unterscheidet, mit dieser jedoch den Sinn für den Ernst der Religion als historisches Medium der sozialen Synthese teilt –, erschloß er dem post-philosophischen Denken nicht nur einen neuen stofflichen Horizont, er fand zugleich den lebenswichtigen Anschluß an die forschenden Wissenschaften von den Kulturen und an die theoretischen Wissenschaften von den symbolisch kommunizierenden Systemen. Debray ist somit ein aufschlußreicher Ratgeber, wenn es darum geht, das Phänomen Derrida in den kognitiven Haushalt der postmodernen Wissensgesellschaften einzuzeichnen.
Den wichtigsten Wink zu einer mediologischen Rekontextuierung Derridas finde ich in Debrays Buch Dieu, un itinéraire. Matériaux pour l’histoire de l’Eternel en Occident aus dem Jahr 2001. Hier ist nicht der Ort, um das quasi theo-biographische Diskursgenre zu würdigen, das Debray mit seiner Hybridisierung von Theologie und historischer Mediologie begründet hat – es genügt vielleicht, provisorisch zu sagen, daß er einen neuen Typus von säkularer, semi-blasphemischer Religionswissenschaft aus der Taufe gehoben hat, der den Vergleich mit Niklas Luhmanns Werk Funktion der Religion von 1977 provoziert. (Wer solche funktionalistisch-blasphemischen Ansätze von der vollendeten und poetischen Blasphemie unterscheiden möchte, müßte sie kritisch lesen gegen Franco Ferruccis von ferne kongeniales Buch Il mondo creato , 1986, auf deutsch: Die Schöpfung. Das Leben Gottes von ihm selbst erzählt ).
In Debrays Erzählung vom Leben Gottes spielen naturgemäß die Migrationen eine entscheidende Rolle, denn der Gott des Monotheismus, von dem die Rede ist, hätte keine nennens- und berichtenswerte Biographie vorzuweisen, wäre er ein residenzpflichtiger Gott geblieben, verurteilt zum Ausharren am Ort seiner Erschaffung oder Selbsterfindung. Es ist
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