Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
wollen wir nun Derridas Auskunft einholen.
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9 Régis Debray, Dieu, un itinéraire. Matériaux pour l’ Histoire de l’Eternel en Occident, Paris 2003, S. 130.
»So geht das Göttliche mit einem Schlag in andere Hände über: von den Architekten gelangt es zu den Archivisten. Vom Monument wandelt es sich zum Dokument. Das Absolute auf die Vorder- und Rückseite eines Blatts schreiben, das heißt eine Dimension sparen, statt drei nur noch zwei. Ergebnis: eine Heiligkeit in der Fläche (wundersam wie ein viereckiger Kreis). ... Nun sind Wasser und Feuer miteinander versöhnt: Beweglichkeit und Treue, Wanderschaft und Zugehörigkeit . Mit einem Absoluten in einem tragbaren Schrank, einem eingeschreinten Gott, wird der Ort, wohin man kommt, weniger wichtig als jener, an den man geht im Verlauf einer mit Sinn und Richtung erfüllten Geschichte. Hätte die monotheistische Flamme denn so viele Umwege überleben können ohne diese Logistik?«
6 Hegel und Derrida
Es wird niemanden, der mit Derridas Werk auch nur ein wenig vertraut ist, überraschen, wenn wir uns genötigt sehen, diese Bemerkung auf der Stelle zu modifizieren. Denn wir mögen uns anstellen, wie wir wollen, den Erfinder der Dekonstruktion zu direkten Aussagen in der Pyramidenfrage zu veranlassen wird uns kaum gelingen. Im Zeitalter der Diskursanalyse ist, wie man weiß, Direktheit insgesamt außer Kurs gesetzt worden. Auf breitester Front haben reflektierende Autoren den Habitus angenommen, nicht in eigener Sache über einen Gegenstand zu sprechen und zu schreiben, sondern über andere Autoren zu sprechen und zu schreiben, die zum Gegenstand gesprochen oder geschrieben haben. Dieses Beobachten von Beobachtungen und Beschreiben von Beschreibungen kennzeichnet eine Epoche, die aus der Not des Zuspätkommens in allem die Tugend der Second-Order-Beobachtung gemacht hat. Wer diese logischen Spiele mit einem bösen Blick betrachtet, könnte leicht auf den Verdacht kommen, in ihnen revanchiere sich die nihilistische Mediokrität der Kommentatoren am Genie der Verfasser von Primärtexten. Ein solcher Verdacht jedoch wird gegenstandslos, sobald der erste Autor Hegel heißt, der zweite Autor Derrida. Sollte also Hegel bereit gewesen sein, Aussagen erster Ordnung zum Thema Pyramide zu treffen, bekommen wir eine Gelegenheit, Derrida mittelbar zur Sache zu hören. Bei einer Konstellation dieses Ranges darf man abermals von einer interhegelischen Beziehung sprechen, und wenn sie auch nicht den Reiz des Direkten besitzt, trägt sie nicht weniger die Züge einer Schlüsselszene.
Mit dieser Szene vor Augen werden wir zu Beobachtern dritter Ordnung – und als solche zu Zeugen einer dramatischen Operation. Sie kommt der Schlußsitzung einer langwierigen Psychoanalyse gleich, in deren Verlauf der letzte Pharao der Metaphysik von ihrem letzten Joseph behandelt wird. Derrida nimmt, wie es sich gehört, geräuschlos hinter Hegel Platz und läßt dessen freien Monolog sich entfalten. Selbstverständlich spricht der Philosoph nicht in der Horizontalen, er steht aufrecht am Pult seines Berliner Lehrstuhls, wo er auf der Höhe der Begriffsgewalt die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften vorträgt, leicht vorgebeugt, um sich zu seinem Manuskript und dem Ernst der Sache zu bekennen. Der dekonstruktive Analytiker tut fürs erste nichts anderes, als auf die Metaphern, die Sprünge, die Lücken, die Pausen und Versprecher zu lauschen, die möglicherweise verraten, daß im Vortrag des vollendeten Wissens Motive am Werk sind, die seine völlige Schließung in sich sabotieren.
Mit einem Mal steigt die Spannung: Hegel beginnt soeben, über die Funktion der Zeichen in der Bewegung der Rückkehr der Idee zur Selbstpräsenz zu sprechen – wir befinden uns inmitten der Paragraphen über die Theorie der Einbildungskraft oder die allgemeine »Phantasiologie«, einem wichtigen Kapitel im Diskurs über den subjektiven Geist. Während Hegel vorträgt, sehen wir, wie Derrida, der bisher reglos zugehört hatte, anfängt, Notizen zu machen. Wir können diese in dem Band Randgänge der Philosophie nachlesen, wo sie unter dem Titel Der Schacht und die Pyramide. Einführung in die Hegelsche Semiologie veröffentlicht wurden. 10 Sofort wird klar: In dieser Szene entscheidet sich das Schicksal der Dekonstruktion – denn wenn Derrida in seinen frühen Arbeiten zu Husserl gezeigt hatte, wie die Schrift die diaphane entente cordiale zwischen der Stimme und dem Phänomen trübt, so
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