Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
der letzten Schließung des Kreises in die Quere kommt. Selbst wenn der Gang des Geistes durch die Kulturen einem zirkulären Exodus gleicht, bei dem die zu schweren Objekte zurückgelassen werden, bis der wandernde Geist leicht, reflexiv und transparent genug geworden ist, um sich für die Rückkehr in den Anfang reif zu glauben, bleibt ein gedrucktes Buch zurück, das seiner Handlichkeit zum Trotz noch immer viel zuviel Äußerlichkeit und Widersetzlichkeit besitzt, um ganz übergangen werden zu können. Noch als Taschenbuch ist die Phänomenologie des Geistes ein träges und opakes Ding, das seinen Inhalt dementiert. Sobald jemand mit dem Finger auf den Buchkörper und das Schwarz seiner Buchstaben deutet, ist das Fest für immer verdorben.
Mehr noch als für die Pyramide wird sich Derrida für den toten König darin interessieren, da er das einzige Subjekt ist, dessen Träume zu deuten sich wirklich lohnt. Man könnte so weit gehen zu sagen, daß zwischen dem König und seinem Traumdeuter eine Art von Komplizenschaft aufkommt, da der Traumdeuter, um Königsträume auszulegen, sie bis zu einem gewissen Grade selber träumen können muß – obwohl sein primäres Geschäft im Widerstand gegen den Pharaonismus und dessen Politik der Unsterblichkeit besteht. Der dekonstruktive Philosoph schwebt immer in Gefahr, sich in die Objekte der Dekonstruktion zu verlieben – es ist dies die Gegenübertragung im post-metaphysischen Rapport. Als lesende Intelligenz ist er das Opfer seiner Rezeptivität, so wie Sokrates das Opfer des Geredes der Athener war, das er in die Weite seines Zuhören-Könnens aufnahm. Wenn sich das Volk von Athen auf der Agora zu Diskussionen versammelte, so war das Ohr des Sokrates die Agora in der Agora. Nicht zufällig hat Derrida in einem seiner geistreichsten Essays, den er 1987 unter dem Titel Chora zu einer Festschrift zu Ehren von Jean-Pierre Vernant beisteuerte, von dem Protophilosophen gesagt: »Sokrates ist nicht chora , aber, wenn sie jemand oder etwas wäre, so würde er ihr sehr ähnlich sein.« 12 Dieses Bonmot enthält, kaum verschlüsselt, Derridas Selbstportrait: Er kennzeichnet die chora als eine Art von Behälter ohne Eigenschaften, »befähigt und berechtigt, alles zu verstehen und folglich alles aufzunehmen (so wie wir, genau hier) ...« 13 In die verstehende Seele des Dekonstruktivisten dürfen die Delirien der ältesten Pyramidenbauer aufgenommen werden, weil es nichts gibt, was nicht in dieser empfänglichen Weite Platz fände – vielleicht sogar seinen gerechten Ort. 14 Als radikaler Partisan der Nicht-Einseitigkeit wollte Derrida dank der Vernunft der Sterblichkeit die Traumgebilde der Immortalisten zur Ordnung rufen, mit der Erinnerung an die Politik der Unsterblichkeit hingegen korrigierte er den blinden Mortalismus der bloß pragmatischen Vernunft.
Noch suchen wir nach einem beweiskräftigen Indiz dafür, daß Derrida selbst die Kontinuität bewußt war, durch die das Immobilienunternehmen Pyramide mit dem jüdischen Projekt verbunden blieb, Gott ein mobiles Format zu geben. Wir finden den Beleg an einer Stelle von Derridas Meditation über den Schacht und die Pyramide, an der sich der Autor plötzlich in eine schwindelerregende, den Kontext weit überfliegende Spekulation stürzt. Er hat gerade Hegels Theorie der Einbildungskraft als Erinnerung referiert, nach welcher die Intelligenz einem Schacht gleicht (einem Brunnen oder einem Bergwerk gleich senkrecht in die Tiefe führend), auf dessen Boden Bilder und Stimmen aus dem bisherigen Leben » bewußtlos aufbewahrt « werden ( Enzyklopädie § 453). In dieser Sicht ist die Intelligenz ein unterirdisches Archiv, in dem, wie Inschriften vor der Schrift, die Spuren des Gewesenen lagern. Hiervon sagt Derrida plötzlich etwas sehr Überraschendes:
»Von diesem nächtlichen Schacht, dessen Todesstille von der verhaltenen Kraft all der Stimmen erfüllt ist, die er in sich hortet, führt ein Weg, den wir nachgehen werden, zu jener aus der ägyptischen Wüste mitgebrachten Pyramide, die sich bald über dem nüchternen und abstrakten Gewebe des Hegelschen Textes erheben wird ...« 15
Was ins Auge springt, ist die Wendung von der aus Ägypten »mitgebrachten Pyramide«. Der Ausdruck ist um so expressiver, als er durch den Kontext wenig motiviert ist – er bricht wie ein Bekenntnis in die Entwicklung des Arguments ein. Er beweist, daß Derrida die Pyramide als eine transportable Form dachte – das Geheimnis ihrer
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