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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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Übungen zu sehen. Sie knieten sich zum Beten hin, beugten sich unter die Wasserhähne, um die rituelle Waschung durchzuführen, oder standen mit vor der Brust gekreuzten Händen da und lauschten einem Munadschat. Hier verbrachte Sohail also seine gesamte Zeit. Er stand noch vor dem Morgengrauen auf und durchquerte die schlafende Stadt hin zu diesem Ort der Männer.
    Maya hatte Ammu aufgeweckt und ihr gesagt, daß sie Sohail sprechen müsse. Sohail, hatte Ammu gesagt, den Mund noch schwer vom Schlaf. Den findest du nicht. Maya war überstürzt aufgebrochen, noch in den zerknitterten Baumwollsachen aus der Nacht zuvor, noch erfüllt von der Erinnerung an die Geburt.
    Sie trat durch das Tor ein und fand ein paar Männer, die außerhalb des Gebäudes herumliefen. Sie sahen sie an, wandten sich schnell ab, starrten sie wieder an und kratzten sich am Kopf. Sie unterdrückte ein Lächeln. Nun habt euch nicht so, wollte sie sagen, ich beiß ja nicht. Schließlich kam einer der Männer auf sie zu. »Frauen haben keinen Zutritt«, sagte er und räusperte sich.
    »Ich bleibe ja nicht lange«, sagte sie, wobei sie dem Drang widerstand, ihn niederzustarren. Er konnte nicht älter als fünfzehn oder sechzehn sein. Zögernd zeigten sich die ersten Barthaare. Seine Schultern waren noch schmal, seine Haltung vornübergebeugt. Er wollte gerade etwas zu ihr sagen, als einälterer Mann von hinten kam und ihm eine Riesenpranke auf die Schulter legte.
    »Begum, es tut mir leid, aber wir besitzen keine Einrichtungen für Frauen. Sie müssen sofort gehen.« Seine Stimme war so kräftig wie seine Hand, tief und rauh, als sei sie über die Straße geschleift worden.
    »Ich habe hier etwas zu erledigen«, sagte sie. »Ich suche meinen Bruder.«
    »Das Freitagsgebet fängt bald an. Sie müssen gehen.«
    Sie war so schrecklich müde. Wie schwierig konnte es denn sein, seinen eigenen Bruder zu finden? »Sohail Haque – ich suche Sohail Haque.«
    Der Mann zögerte. Sein Mund ging auf und wieder zu, ein großes, klaffendes Loch, das von einem Bartfell umrundet war. »Er ist nicht hier.«
    Er log.
    »Aber hierher kommt er doch, jeden Tag. Er ist jeden Tag hier.«
    »Er ist nicht mehr bei uns.« Der Mann machte eine Armbewegung, und es war klar, daß er sie hinauswerfen würde, wenn er könnte, was aber vor den anderen Männern nicht ging, die herumstanden, einander anstießen und sich in immer größerer Zahl zum Freitagsgebet einfanden.
    »Nicht mehr? Wo ist er?«
    »Das weiß ich nicht«, antwortete der Mann und sah sie mit unverhohlener Ablehnung an. Der Muezzin begann mit dem Ruf zum Gebet. Ein Megaphon plärrte los. Allahu akbar, allahu akbar.
    Die vielen Männer um sie herum stellten sich in Reihen zum Gebet auf. Der Mann legte die Hand an Mayas Ellbogen und führte sie zum Tor. »Bitte – ich muß meinen Bruder finden.« Sie schrie. »Sohail, Sohail!« Aber sie waren schon am Tor, und er schob sie mit großer Kraft am Ellbogen hinaus auf die Straße und knallte das Tor hinter ihr zu. »Was gibt’s da zu glotzen?«, hörte sie ihn donnern. »Geht zurück zum Gebet! Los!«
    Irgendwo da drin mußte er sein. Sie rieb sich den Ellbogen, und sie spürte wieder die lange Nacht, in der Rokeya mit ihrer Steißgeburt gekämpft hatte. Ihr Geständnis. Sie zog die Möglichkeit in Betracht, daß Rokeya vielleicht nach den Anstrengungen der Wehen verwirrt war – doch ihrer Erfahrung nach waren Frauen im Augenblick der Geburt am klarsten bei Verstand. Nein, es mußte stimmen. In dem Augenblick, in dem sie es gesagt hatte, wußte Maya, daß es stimmte. Bei dem Gedanken blieb ihr die Luft weg. Zaid hatte gelogen, er habe Schulferien gehabt. Sie erinnerte sich an Khadijas Worte. Wir haben ihn zurückgeschickt.
    Hinter sich hörte sie jemanden, und als sie sich umdrehte, sah sie den jungen Mann, der sie anfangs angesprochen hatte. Er lehnte sich zu einem Spalt im Tor hinaus. »Ihr Bruder ist in einer Moschee in Kolabagan. Nehmen Sie die Elephant Road zur Ghost Road. Ein Gebäude neben einem leeren Grundstück. Ein Neubau.«
    »Eine neue Moschee? Aber warum?« Sie wollte durch den Spalt nach ihm greifen, aber er war bereits verschwunden.

    *

    Sie folgte seiner Wegbeschreibung: Elephant Road zur Ghost Road. Sie fragte Passanten nach dem Weg zur neuen Moschee. Sie wiesen ihr die Richtung in eine immer schmaler werdende Gasse. Alle Leute in dieser Gegend gingen geschäftig ihren Arbeiten nach, die Frauen bückten sich hinunter zu Wassereimern und kamen mit

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