Mein fremder Bruder
zu erschöpft zu sein, um weitere Fragen zu stellen. »Wir haben eine Cholera-Epidemie.« Die Gänge waren völlig überfüllt, die Leute warfen ihre Gamchas auf den Boden und setzten sich darauf. »Sie wissen, was zu tun ist – orale Rehydrierung.« Er händigte ihr einen weißen Kittel aus. Sie war in den Krankenhausdienst entlassen.
Sie raste durch eine Schicht, dann durch die nächste, angetrieben von rastloser Energie und der ständigen Angst, daß sie zurück nach Hause gehen müßte, wenn sie sich hinsetzte und über das nachdachte, was sie getan hatte. In der zweiten Nacht fand sie ein herrenloses Stethoskop, das sie sich um den Hals hängte, und als sie in den Spiegel blickte, war sie froh, ein völlig übermüdetes Gesicht zu sehen, in dem alle Anzeichen eines gebrochenen Herzens von körperlicher Erschöpfung überdeckt wurden.
Als Sultana sie am nächsten Morgen endlich fand, lief sie immer noch im Dauerlauf zwischen den vielen Patienten auf dem Boden und in den Betten hin und her.
»Jetzt kannst du mal aufhören«, sagte Sultana.
Sie blinzelte und brauchte einen Augenblick, um ihre Freundin zu erkennen. »Ich habe noch ein paar von heute nacht.«
»Du bist seit achtunddreißig Stunden auf den Beinen. Laß uns nach Hause gehen.«
Maya blinzelte wieder, weil ihr das Salz in den Augen brannte. »Danke schön«, sagte sie und wandte dabei das Gesicht ab, damit ihre Freundin ihre Tränen nicht sah. »Meine Sachen sind noch auf der anderen Station.«
Sie blieb, bis der Höhepunkt der Cholera-Epidemie überstanden war. Als es Zeit wurde zu gehen, sagte Sultanas Mann: »Mein Freund Ranen hat eine Klinik in Rangamati. Die brauchen immer Leute.«
Nach vierzehn Tagen in Khulna und einer Woche in Khagrachari saß sie im Zug nach Rangamati. Auf der Fähre drangen dieKlänge unbekannter Sprachen an ihr Ohr, hartkantige Silben, und noch weiter auf ihrer Reise sah sie Frauen in langen Röcken und kurzärmligen Blusen mit kleinen, fast quadratischen Gesichtern, die ihre Säuglinge mit Bändern aus handgesponnener Wolle in Dunkelblau und Gelb und Rot auf den Rücken gebunden hatten. Diese Menschen wurden als Urbevölkerung bezeichnet, urtümliche Stämme, die Chakma und Marma und Santal hießen und bereits vor allen anderen dagewesen waren, bevor es Pakistan und Landkarten und den Krieg gegeben hatte. Maya beobachtete ein kleines Mädchen und seine Mutter, die mit den Fingern aus einem in Blätter verpackten Päckchen aßen. Sie lachten mit offenen Mündern und gaben einander voller Zuneigung sanfte Klapse auf die Wange.
Maya beendete ihren kurzen Einsatz in Rangamati und nahm wieder den Zug nach Süden. Als sie ausstieg, war sie am Rand des Landes angekommen, noch weiter im Süden als die Hafenstadt Chittagong, und lief hinaus auf einen einsamen, beigebraunen Sandstrand. Cox’s Bazaar. Das Meerwasser war ein wenig trüb, aber angenehm warm, und als sie mit den Füßen hindurchlief, merkte sie, daß sie die Ascheflocken nicht mehr schmeckte, den verkohlten Ruß, der sich unter ihrer Zunge und zwischen ihren Fingern abgesetzt hatte. Ihre Zunge war auf einmal sauber, und als sie sich, voll bekleidet im Salwar Kamiz, ins Wasser hockte, rubbelte sie die Zwischenräume zwischen ihren Zehen und ihre Kniekehlen sauber. In der Pension schrubbte sie weiter an sich herum, diesmal mit Seife, goß sich eimerweise das Wasser über den Kopf und bearbeitete den Schmutz unter ihren Fingernägeln mit der Bürste. Mit rotem Gesicht, das dünne, gestreifte Handtuch, das zum Zimmer gehörte, um die Haare gewunden, kam sie aus dem Bad.
Zum ersten Mal seit der Abreise dachte sie an ihre Mutter und beschloß, ihr ein Telegramm zu schicken. Sie rang mit den Worten und entschied sich schließlich für Es geht mir gut. Bitte mach dir keine Sorgen. Es ist besser so.
Und so geschah es. Ein paar Wochen hier, ein paar Wochen dort. Rangamati, Bandorbon, Kushtia. Schließlich wandte sie sich wieder nach Norden und reiste unter Umgehung der Hauptstadt den Jamuna und den Padma entlang bis nach Rajshahi, wo sie sich niederließ, wo sie ihre Träume vom Waisenleben träumte und unter einem Jackfruchtbaum scharlachrote Beeren aß und auf den Briefträger wartete.
1985
Februar
Die Kakrail-Moschee hatte nichts von der Schönheit der Moscheen in den älteren Stadtteilen. Es war ein rechteckiger Betonklotz, aus dessen Mitte ein Minarett emporragte. Durch die Sichtblenden im einfachen Betongitter hindurch waren die Männer bei ihren religiösen
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