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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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seiner Tür. Eine Lichtsäule, die seinen Schatten umrahmte.
    Er kam nach draußen. Erwartungsvoll wurde ihre Stimme lauter. Er hatte etwas in den Armen, zu dunkel, man konnte nichts erkennen. Einfach Augen zumachen und weitersingen. »Anondo dhara bohichey bhuboney.« Er ging über die Veranda und nach vorn zur Einfahrt. Rascheln. Seine Bücher. Oh, er schaffte sie hinaus. Keine Pause, einfach weitermachen. Er tut nur das, was er vorher angekündigt hat. Wahrscheinlich kommt jemand, um die Bücher abzuholen. Egal, wer es war, sie würdedenjenigen festhalten und davon überzeugen, die Bücher vor dem Haus stehenzulassen. Ha! Was würde er dann machen? Vielleicht muß er sie nur vor Silvi verstecken – ja, so wird es sein. Er will sie beschützen. Denk nicht an die Bücher. Sing einfach weiter. »Bohichey bhuboney.« Aus seinem Zimmer rein und raus, rein und raus; hin und wieder hörte sie ihn unter dem Gewicht der Kisten ächzen, die er in die Einfahrt schleppte.
    Sie sang jetzt, ohne nachzudenken, alles, was ihr in den Kopf kam. Sie fing ein neues Lied an, ohne das vorherige zu beenden. Sie schwankte im Rhythmus hin und her, Finger und Atem und Zunge, alles gehorchte. Sie hielt die Augen fest geschlossen, weil sie eine andere Zeit herbeisingen wollte. Eine Zeit, in der ihr Bruder keine Bücher in Kisten packte. Der Gesang ließ es warm werden im Garten. Genauso mußte Tagore sich den Vortrag seiner Lieder gedacht haben. Feurig und herzerwärmend. Worte wie das Röhren und Spucken eines Feuers.
    Sie öffnete die Augen.
    Der Garten war orangeschwarz, und Sohail stand in der Mitte und warf Bücher auf einen Haufen. Einen Scheiterhaufen. Arm hoch, Wurf, das Feuer hochschlagen sehen, Wurf. Sang sie immer noch? Sie war verstummt. Außer dem Knistern des Feuers war nichts mehr zu hören, ein tiefes Grollen, sie wollte sich bewegen, konnte aber nicht. Der Eimer stand unter dem Wasserhahn im Garten. Sie könnte versuchen, ihn zu füllen und das Feuer zu löschen. Doch dessen Farbe sprach für sich selbst, sprach: Ich bin stärker als du. Mein Feuer hat dein Feuer zum Schweigen gebracht.
    Es mußte ein Traum sein. Eine große Ruhe durchfloß sie. Sie sang ihr Lied weiter. Ihre Stimme blieb bei ihren Strophen, während Ammu sie ins Haus schleppte, während Ammu den Eimer füllte und die Flammen löschte. Erst als sie Ammu brüllen hörte, wurde sie aufgeschreckt; Ammu schrie sie an, es sei alles ihre Schuld, während Maya sich die schwebenden Aschestückchen aus den Haaren pickte, sich durchs Gesicht rieb, das schwarz vom verkohlten Papier war. Erst da verstand sie, was geschehen war.
    Sohail hatte alle Bücher verbrannt.
    »Du hast ihn provoziert«, brüllte Ammu. »Du hast ihn immer und immer weiter provoziert.« Und Maya hörte sich protestieren: »Was habe ich denn gemacht? Ich habe bloß gesungen.« Ihre Mutter entgegnete mit weit aufgerissenen Augen: »Hast du dir das ein einziges Mal angehört, was er gesagt hat, da oben auf dem Dach? Hast du einmal hingehört? Nein. Du hast dich nur über ihn lustig gemacht. Du hast dich taub gestellt und dich über ihn lustig gemacht.«
    »Weil ich wußte, wohin das führen würde.«
    »Aber das mußte doch nicht so kommen. Du hast ihn dazu angestachelt, weil du ihn einen Mullah genannt hast. Und warum? Weil du es nicht aushalten kannst, daß er anders ist als du!«
    Auch du, Mutter.
    Maya traf noch in jener Nacht alle Vorbereitungen, rief, die Lunge voller Rauch, Sultana an und packte ihre Sachen. Am Morgen verschwand sie. Zwei Monate später hörten die Predigten auf dem Hausdach auf. Kleine Wellblechhütten entstanden, und Sohail und Silvi bauten sich ihre Welt oben auf dem Bungalow auf. Mrs. Chowdhury starb, still und leise und ohne eine Träne ihrer Tochter. Zaid wurde geboren und von einer Hebamme in die Welt gebracht, deren Gesicht hinter schwarzem Gitterstoff verborgen war. Das war das erste, was er sah: Eine leere Fläche, wo das Willkommenslachen hätte sein sollen.

    *

    Maya nahm den Bus nach Tangail. Ohne ihr Gepäck auszupacken oder ihre Freundin zu begrüßen, begann sie eine Schicht im Krankenhaus. Der diensthabende Oberarzt war gestreßt und hatte Blutspritzer auf dem Kragen, als hätte er selbst am Hals geblutet. »Was machen Sie hier ganz allein?« fragte er, während er sich die Ärmel hochkrempelte und sich über ein gesprungenes, grau gerändertes Waschbecken beugte.
    »Ich bin eine Freundin von Sultana«, antwortete Maya. »Aus dem Medizinstudium.«
    Er schien

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