Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
Vom Netzwerk:
sie auf die Strömung des Jamuna traf.
    Über die Madrasa wußte sie, abgesehen von dem bißchen, das sie sich zusammengereimt hatte, fast nichts. Sohail hatte gesagt, er bringe den Jungen nach Chandpur, und Zaid hatte erzählt, die Schule befinde sich mitten im Fluß auf einer eigenen Insel. Sie hatte auf der Landkarte nachgeschaut und drei verschiedene Chandpurs gefunden, nur eins davon in Flußnähe.
    Sie hatte am Morgen vor ihrer Abreise versucht, Khadija auszufragen. Die hatte ihr aber nichts verraten. Du kommst uns nicht mehr besuchen, hatte sie gesagt.
    Maya hatte sich hinters Licht führen lassen. All die Nachmittage, die sie oben verbracht hatte, berauscht von der Möglichkeit, daß jemand die Krankheit ihrer Mutter in der Hand haben könnte, einer himmlischen Hand, die sie mit Hilfe von Khadija und ihrer Jamaat manipulieren konnte. Wie hatte sie so naiv sein können? Sie hätte Sohail nie erlauben dürfen, Zaid auf die Koranschule zu schicken. Ihre Denkfähigkeit war durch Ammus Krankheit getrübt worden. Und als Zaid zu ihr gekommen war, hatte sie ihn abgewimmelt. Wie sollte jemals eine guteMutter aus ihr werden? Sie sah nicht mal das, was sich direkt vor ihrer Nase abspielte.
    Unten im Schiff war es schrecklich voll und stickig. Drinnen zu sitzen machte sie durstig. Sie trat hinaus aufs Deck und stützte sich mit den Armen auf die Reling, wo ihr kleine Gischtspritzer ins Gesicht flogen.
    Sie fand einen Getränkestand. Ein Junge mit bis auf die Hüften hochgezogenem Lungi hockte vor einer Wanne mit Eisbrocken und Limonadeflaschen. »Eine Cola bitte«, sagte Maya. Der Verkäufer sah aus wie ungefähr zwölf, kräftige Arme ragten aus einem ehemals weißen Unterhemd hervor. Er zog eine Flasche aus dem Eiswasser, wischte sie mit einem Lappen trocken und öffnete den Kronkorken auf dem ramponierten Holztisch vor sich.
    Sie gab ihm fünf Taka. Er sah ihr mit einem so strahlenden, hoffnungsvollen Lächeln ins Gesicht, daß sie ihn fragte, warum er nicht in der Schule sei.
    Immer noch lächelnd, zuckte er die Achseln.
    »Wo wohnst du?«
    »Hier, auf der Fähre. Der Kapitän ist mein Onkel.«
    Eine große Familie kam auf den Getränkestand zu und wollte etwas trinken. »Drei Mirandas und sieben 7 Ups!« dröhnte der Vater, der seinen Witz sehr lustig fand. »Und mach schnell, ja.« Der Junge beeilte sich wie ein Wahnsinniger, um die Bestellung auszuführen, fischte Flaschen aus dem Eiswasser und warf aus den neben ihm aufgestapelten Kisten neue hinein. Maya blieb in der Nähe stehen und sah ihm beim Arbeiten zu. Der Mann nahm die Getränke ohne ein Wort des Danks entgegen, warf dem Jungen das Geld hin und drückte auf die dünnen Strohhalme, die in den offenen Flaschenhälsen nach oben drängten.
    »Kommen Sie aus Dhaka?« fragte der kleine Verkäufer.
    »Ja«, antwortete sie, »ich bin Doktor.«
    Beeindruckt schob er die Unterlippe vor und nickte. »Dakhtar.«
    Sie waren jetzt in der Flußmitte, und die Ufer auf beidenSeiten waren nicht mehr zu sehen. Ein Muezzin rief zum Asr-Gebet. Die Fähre wurde langsamer, der Motor stotterte. Dann ging er mit einemmal ganz aus, und alles war still, nur noch das Schwappen des Wassers gegen den Bootsrumpf war zu hören.
    »Manchmal geht der Motor kaputt«, sagte der Junge. Von unten waren Geschrei und Fußgetrappel zu hören. Kein Lüftchen regte sich mehr. Die Passagiere bevölkerten die Gänge und drängten sich an die Reling.
    »Kommen Sie mit«, forderte der Junge Maya auf. »Ich weiß einen besseren Platz.«
    »Ach, es geht schon.« Maya schüttelte den Kopf. »Es ist gar nicht so schlecht hier. Außerdem kannst du deinen Stand doch nicht einfach verlassen, die Leute wollen sicher was zu trinken.«
    Aber er war schon dabei, die Wanne unter den Tisch zu schieben und den kleinen Stand zusammenzufalten. Sie folgte ihm mehrere Treppen nach oben, einmal über das ganze Schiff hinweg und dann eine schmale Leiter hinauf. Behende kletterte er hoch, krallte sich mit den bloßen Füßen an den Metallstufen fest, drehte sich dann um und streckte Maya die Hand hin.
    Es war sehr hell, die Sonne wurde von dem weißgestrichenen Dach reflektiert, aber die Stelle war kühler, weil man den rauhen Wind spürte. In der östlichen Ecke gab es einen kleinen Vorsprung, auf den sie sich nebeneinander setzten. Der Ruf des Muezzin ertönte wieder. Außer ihnen waren noch ein paar andere da; ein Mann rollte ein rechteckiges Stück Stoff aus und betete, den Kopf nach Westen geneigt. Unwillkürlich

Weitere Kostenlose Bücher