Mein fremder Bruder
sagte sie. »Er ist nicht sicher da, es ist kein sicherer Ort für Kinder. Der Huzur tut ihnen Dinge an, was genau, weiß ich nicht, aber die Kinder können sich nicht gegen ihn wehren. Verstehst du, was ich sagen will?«
Er wandte sich von ihr ab. Der Rikschafahrer auf der anderen Straßenseite hatte sich auf der Sitzbank seines Vehikels zum Schlafen gelegt. Die Geräusche der Stadt waren bald leise, bald lauter zu hören, in der Ferne rangierten Lastwagen, Züge pfiffen auf den Bahngleisen. Sie faßte nach seiner Hand, weil sie glaubte, daß der Schock ihrer Worte allmählich zu ihm durchdrang. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, war seine Stimme heiser. »Er lügt, das weißt du ganz genau. Er lügt wie gedruckt.« Zwischen seinen Augen war eine tiefe Falte.
»Ich weiß, aber das Risiko kann man nicht eingehen. Selbst wenn eine geringe Möglichkeit besteht, daß er die Wahrheit sagt, mußt du ihn da rausholen. Und ich sag es dir, er sah nicht gut aus. Rokeya hat gesagt –«
»Du hast Rokeya gesehen?«
»Ich habe heute morgen ihr Baby auf die Welt gebracht.«
»Schwester Khadija war empört über die Art, wie sie die Jamaat verlassen hat.« Mayas Zeugin war nicht verläßlich, ihre Aussage wurde anfechtbarer.
»Die Madrasa ist kein guter Ort, Bhaiya.«
»Du bist da ja kaum objektiv.« Er strich sich mit beiden Händen den Bart glatt. Die lila Druckstelle an seiner Stirn glänzte im letzten Licht. Die Gläubigen waren davon überzeugt, daß dieser Fleck am Tag des Jüngsten Gerichts strahlen würde wie die Stirnlampe eines Grubenarbeiters, wie ein Leuchtturm.
»Machst du dich dann gleich morgen auf den Weg?« fragte Maya.
Er zögerte, zog stärker an seinem Bart, als wolle er seine Locken glätten. »Er ist mein Sohn. Ich werde für seine Sicherheit sorgen.«
»Versprich mir, daß du morgen zu ihm fährst.«
»Das kann ich dir nicht versprechen.«
Das konnte er nicht ernst meinen. Er würde nicht hinfahren, er würde seinen Sohn nicht aus der Hölle retten, in die er ihn geschickt hatte. »Du willst unbedingt, daß er genauso wird wie du, was?«
Sohail war nah, sehr nah, als er sagte: »Mehr als alles andere will ich, daß er nicht so wird wie ich. Deswegen habe ich ihn weggeschickt.«
Sie wurde nicht aus ihm klug, was sie ihm auch sagte. »Das verstehst du nicht.« Er gab ihr einen sanften Kuß, traf ihre Stirn aber nicht, sondern landete mit den Lippen auf ihrer Augenbraue. Sie machte sich steif und fragte sich, was sie jetzt tun sollte. Die ganze Zeit hatte sie auf eine großmütige Geste von ihm gewartet. Im Krankenhaus hatte sie eine Ahnung davon bekommen. Er war an Ammus Krankenbett getreten, er hatte die Worte rezitiert. Damals hatte sie geglaubt, das würde reichen. Aber jetzt glaubte er ihr nicht. Er würde seinen Sohn nicht retten.
Als sie nach Hause kam, schlief Ammu schon. Maya packte eine kleine Reisetasche. Zahnbürste, einen Satz Kleider zum Wechseln. Dann fiel ihr Rokeyas Schwester wieder ein, und sie stieg hoch aufs Dach und zog lautlos einen langen schwarzen Tschador und einen Niqab von der Wäscheleine. Sie hinterließ Ammu eine Nachricht neben dem Bett. »Ich muß für ein paar Tage nach Rajshahi fahren und ein paar Sachen abholen.«
Bevor sie sich bei Sonnenaufgang, als der Himmel rosa und bernsteingelb war, aus dem Haus schlich, wählte sie Joys Nummer. »Was gibt’s?« fragte er mit verschlafener Stimme. »Hast du’s dir anders überlegt?«
»Nein.«
»Na schön. Aber wir können auch heimlich heiraten, weißt du. Standesämter gibt’s im ganzen Land. Man braucht nur ein paar Scheine rüberzuschieben, und sie verheiraten einen an Ort und Stelle.«
Sie sagte ihm, daß sie für ein paar Tage nach Rajshahi fahre.
»Laß mich mitkommen.«
»Geht nicht. Aber kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Was du willst.«
»Ich möchte, daß du jemanden für mich suchst. Jemanden, den ich im Krieg verloren habe.«
Der nächste Tag
Er war ewig: Der Jamuna, der selbst jetzt im Winter, wenn er so viel schmaler war, mächtig gegen die Ufer schlug. Maya war bis hierher gehastet, doch jetzt ließ sie sich ein wenig Zeit, bevor sie in die Fähre stieg, und genoß den Anblick von braunem Löß und Schlick. Wenig in diesem Land flößte Ehrfurcht ein, doch dieser schlammige, gefährliche Strom war ein Wunder.
An diesem Samstagmorgen war die Fähre überfüllt. Maya fand einen Platz auf dem Unterdeck. Ein Sirenenton, schon beschleunigte die Fähre und krängte wie ein Schaukelstuhl, als
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