Mein fremder Bruder
ohne ein Wort aus dem Zimmer und stiefelte durch den Garten, wobei sie ihren Zopf löste und aufgebracht mit den Fingern durch die verworrenen Haare fuhr. Tu etwas, schrie sie sich innerlich an. Tu etwas. Dein Bruder wendet sich, verwandelt sich. Bald erkennst du ihn nicht mehr wieder. Er war ihr ältester Freund gewesen, alles, was ein Bruder sein sollte: Beschützer, Herausforderer, der sie immer antrieb, noch besser zu werden. Er kannte alle ihre Schwachstellen, kannte ihre Tendenz zum Hysterischen, Dogmatischen. Daß sie viel zu oft wütend war. Er konfrontierte sie mit sich selbst. Sie brauchte ihn. Es war egoistisch, aber sie brauchte ihn. Nein, es war nicht egoistisch. Alle brauchten ihn. Er war ihr Leuchtturm. Das Land brauchte ihn. Sheikh Mujib hatte es selbst gesagt. O Gott, Mujib war tot. Sohail konnte sie nicht auch noch verlassen,es war zuviel. Die Welt würde zusammenbrechen. Was konnte sie nur tun? Silvi übte jetzt Kontrolle aus, Silvi, deren schmale Lippen und fremdländische Augen einen verwundeten Mann zum Propheten hatten werden lassen.
Sie dachte an all die Dinge, die er früher gern gemacht hatte. Vor dem Krieg, vor Piya und Silvi. Cricket auf Kurzwelle. Mangos und Eiscreme. Dante und Ibsen. Jimi Hendrix und John Lennon. Ihre Stimme zum Harmonium. Ihre Stimme. Wann hatte er sie zum letzten Mal singen gehört? Sie konnte für ihn singen. Sie konnte Harmonium spielen und ihre Kehle für ihn öffnen. Sie hatte schon miterlebt, wie sich die Augen ihrer Zuhörer weiteten, wenn sie die erste Note sang, und hinterher hatte sich eine neue Förmlichkeit zwischen ihnen eingestellt, selbst wenn sie sie vorher kannten, weil ihr Gesang sie in ihren Augen verändert hatte. Solch eine zarte Stimme in einer so harten Frau. Kleine Frau, große Stimme.
Silvi sollte zum Teufel gehen. Maya würde singen. Sie holte das Harmonium aus dem Kasten. Lang war es her, seit sie zum letzten Mal den Blasebalg auf der Rückseite des Instruments bearbeitet hatte, wahrscheinlich seit dem Krieg nicht mehr.
Sie war auf dem Kriegspfad. Krieg gegen Silvi. Sie hatte die Bücher auf ihrer Seite, und das Harmonium und Tagore, und sie würde kämpfen. Schon röteten sich ihre Wangen im sicheren Sieg, als sie mit geballter Faust durch den Garten lief und in die Luft schlug. Auf ihre Freunde war kein Verlaß mehr, nicht, seitdem Sohail Kona gleich beim ersten Anlauf bekehrt hatte. Schwache Seelen! Sie mußte es selbst tun. Sohail war in seinem Zimmer und fragte sich wahrscheinlich immer noch, was er mit seinen Büchern tun sollte. Jetzt war der beste Augenblick, um zuzuschlagen. Sie staubte das Harmonium ab. Legte eine Jutematte in den Garten. Sie würde es genau hier tun. Ammu würde nach Hause kommen, sie singend im Garten vorfinden und zustimmen, daß sie im Kampf gegen Silvi alle Waffen in ihrem Arsenal einsetzen mußten. Fanatismus wurde mit Fanatismus bekämpft. Die Sonne ging allmählich unter, und die Abendgeräusche ersetzten die des Tages. Grillen, Mücken. Schon hatte sie ein paar Stiche auf dem Arm. Es war ihr egal. Sie zündete eine Moskitospirale an. Schön, los ging’s. Sie fing mit einem von Sohails Lieblingsliedern an: »Ekla chalo re.« »Jodi tor daak shune keu na, tobe chalo re.«
Zuerst hatte sie ein wenig Schwierigkeiten mit dem Harmonium, ihre Finger trafen die Tasten nicht richtig, aber schnell war sie wieder drin, pumpte den Blasebalg mit der linken Hand und drückte mit der anderen die Tasten. Tagore, genau der richtige Mann für diese Aufgabe.
Das Lied war zu Ende. Sie hörte das Rascheln eines Gekkos im Gras, seinen Stakkatoruf. Hätte sie nicht besser eine Lampe mit hinausnehmen sollen? Sing einfach weiter. Ein Revolutionslied: »Amar protibader bhasha, amar protirodher agun.« Das Lied ließ ihr Herz höher schlagen. Ihre Finger rasten, verhedderten sich, schlugen auf die Tasten ein. Dieses Lied hatte Sohail immer geliebt. Es würde all seine Erinnerungen wecken. Sie behielt seine Tür im Auge, aber da bewegte sich nichts, das ganze Lied über. Dann halt ein Gedicht. Sie rezitierte soviel von Nazruls »Bidrohi«, wie sie noch im Kopf hatte, wobei sie mit drei Fingern auf dem Harmonium das Tempo vorgab. Als ihr Gedächtnis beim zweiten Vers versagte, stellte sie sich vor, daß er aus dem Zimmer gestürmt kommen und die Zeilen für sie zu Ende sprechen würde. Doch nichts. Sie stimmte das gefühlvollste Tagore-Lied an, das sie kannte, »Anondo Dhara«. Quell der Freude . Sie hörte etwas. Das Knarren
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