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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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nassen Wäschestücken wieder hoch, die Männer trugen behende schwere Lasten, Wasserfässer und Kartons und Zementsäcke. Sogar die Telefonleitungen schienen leicht und anmutig über den Bürgersteigen zu baumeln.
    Als sie das Tor schließlich sah, wußte sie sofort, daß es das richtige sein mußte. Es war grün gestrichen und mit einem kleinen weißen Stern und Halbmond verziert. Sie konnte den Geruch des frischen Betons geradezu riechen, den weißen Staubschmecken, der in der Luft um den Neubau schwebte. Eine Klingel gab es nicht. Sie hämmerte ans Tor. Keine Reaktion. Sie klopfte weiter. Sie ging um die Ecke und suchte nach einem weiteren Eingang. Ein Mann ging vorbei, der einen Stapel Ziegelsteine auf dem Kopf transportierte. »Ist das die neue Moschee?« fragte sie ihn.
    Nicken konnte der Mann nicht, aber er rief ihr zu: »Sie müssen warten. Die machen das Tor nicht auf.«
    Wieder warten. Sie fand eine schmale Aussparung in der hohen Mauer, die das Gebäude umgab, und schob sich hinein, wobei sie die Augen mit der Hand vor der grellen Sonne schützte. Die Anwohner der Ghost Road liefen vorbei. Maya fragte sich, ob sie einen öffentlichen Fernsprecher suchen und Joy anrufen sollte. Aber was sollte sie zu ihm sagen? Er würde mit seinem Honda vorgefahren kommen und sie retten wollen. Sie wollte aber nicht gerettet werden. Auf Arm und Unterschenkel, die nicht im Schatten waren, knallte die Sonne. Sie döste im Stehen und bemerkte die neugierigen Blicke der vorbeigehenden Passanten, als sie benommen aufwachte.
    Der Nachmittag begann und verging, die Straßen wurden ruhiger, die Geschäfte verriegelt oder mit Neonröhren, Petroleumlampen und kleinen offenen Feuern abendlich beleuchtet.
    In Sohails Gebäude rührte sich nach wie vor nichts. Sie hatte niemanden hinein- oder herausgehen sehen. Kein Muezzinruf war zu hören, keine Bewegungen von Männern, die sich auf das Gebet vorbereiteten. Ammu machte sich sicherlich bereits Sorgen. Maya merkte, daß sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte und ihr Magen schmerzhaft leer war. Sie dachte zum wiederholten Mal, daß sie zu Hause auf ihn hätte warten sollen. Dann ging das Tor auf, und er stand vor ihr, die Hände vor der Brust gekreuzt.
    »Wie lang bist du schon hier?«
    »Sehr lang. Kann ich reinkommen? Ich habe schrecklichen Durst.«
    »Warte.« Er verschwand durchs Tor und kam mit einer Blechkanne voll Wasser zurück.
    Das Wasser war lauwarm und schmeckte nach Metall. Sie trank es aus. »Das hier ist deine neue Moschee? Was ist das?«
    »Ein Gemeindehaus.«
    »Kann jeder Mitglied werden?«
    »Ja, prinzipiell schon.« Er seufzte tief auf und überraschte sie dann damit, daß er ihr die Hand auf die Schulter legte. »Hast du etwas auf dem Herzen, Maya?«
    Sie beschloß, vorsichtig vorzugehen. »Damals, im Krankenhaus, weißt du«, sagte sie, »was hast du Ammu da ins Ohr geflüstert?«
    »Die Sure Ja-Sin.« Seine Stimme klang weich und verliebt. »Wa-l-qurani al-hakimi, innaka lamina al-mursalina …« Das mußte es gewesen sein, was Ammu aus dem Koma geweckt hatte, der zärtliche Ruf ihres Erstgeborenen. Das Wunder seiner Stimme.
    »Es geht ihr viel besser, weißt du. Sie läuft herum und alles.«
    Eine Rikscha hielt vor ihnen an. »Jaben?« fragte der Fahrer und klingelte.
    Maya wollte ihn wegwinken, aber Sohail sagte: »Wart da drüben. Apa muß sich bald auf den Heimweg machen.«
    »Ich bitte dich, Sohail, laß mich reinkommen. Ich muß mit dir reden.«
    Er gab keine Antwort, sondern stand nur vor dem Tor, als müsse er das bewachen, was dahinter war. Ihr wurde klar, daß sie es ihm gleich dort draußen auf der Straße würde sagen müssen. »Es geht um Zaid.« Sie beobachtete seinen Gesichtsausdruck, ob er Bescheid wußte oder etwas ahnte. »Ich habe gehört, er sei aus der Koranschule weggerannt. Als Ammu im Krankenhaus war.«
    Sohail seufzte. Seine Hand lag schwer auf ihrer Schulter.
    »Hat er dir gesagt, warum er weggelaufen ist?«
    Sohail schüttelte müde und resigniert den Kopf. »Der Huzur hat gesagt –«
    »Genau über diesen Huzur will ich mit dir reden. Da geht etwas vor sich, etwas, das nicht richtig ist – ich habe Zaid doch selbst gesehen, er sah gar nicht gut aus. Ich mußte Ammu an dem Tag ins Krankenhaus bringen, sonst wäre ich zu dir gekommen.« Sie versuchte, sich herauszureden. Wäre Zaid nur nicht genau in dem Augenblick gekommen, hätte sie ihn nur mit ins Krankenhaus genommen. »Tatsache ist jedenfalls, daß du ihn da rausholen mußt«,

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