Mein fremder Bruder
hatten und die Dunkelheit jetzt nur noch vereinzelt vom gelben Schein kleiner Petroleumlämpchen unterbrochen wurde.
»Es paßt gerade nicht so gut«, sagte sie. »Er ist verreist.«
Er stieg wieder aus der Rikscha aus. »Dann ein anderes Mal«, sagte er und zog einen unsichtbaren Hut vor ihr. Dann sagte er: »Nächsten Freitag machen Chottu und Saima eine Party. Komm doch mit.«
Sie hatte schon gehört, daß Chottu und Saima reich geworden waren, was für ein großes Haus sie in Gulshan besaßen. Ein bißchen neugierig war sie schon. Und zu wissen, wann sie Joy wiedersehen würde, war auch nicht verkehrt. »Vielleicht. Ich ruf dich an, ja?«
Auf dem Heimweg dachte Maya an ihr letztes Zusammentreffen mit Joy. Sheikh Mujib war gerade in Pakistan aus dem Gefängnis freigelassen worden und sollte an jenem Morgen in Dhaka eintreffen. Die Menschen standen am Straßenrand Spalier, vom Flughafen bis zur Road 32 in Dhanmondi, wo er wohnte. Maya hatte sich mit Chottu und Saima an der Mirpur Road verabredet. Chottu hatte sich eine grünrote Flagge auf die Wange gemalt. Maya hatte ihm gesagt, er sähe wie ein Clown aus. »Mir doch egal«, hatte er erwidert. »Joy Bangla!« Von allen Seiten kamen Menschen herbeigeströmt. Sie traten aus den Häusern und Läden, ließen ihre Autos mitten auf der Straße stehen undsprangen aus Rikschas. Kinder wurden auf Schultern gehoben. Als Maya sich umsah, war die Straße verschwunden und von einem Meer aus Leibern geschluckt worden. Endlich hatten sie es zu der Straße geschafft, an der Mujib vorbeikommen würde, und hatten sich ein Fleckchen auf dem Gehweg erkämpft. Der Gesang schwoll an. »Er kommt«, verkündete Chottu, der auf Zehenspitzen stand. »Ich seh ihn schon!«
Der Aufschrei pflanzte sich durch die Straße fort. Mujib stand auf der offenen, mit Blumen bestreuten Ladefläche eines ganz gewöhnlichen Kleinlasters, mit dem sonst vermutlich Ziegelsteine oder Obstkisten befördert wurden. Als Mujib an Maya vorbeikam, blickte er gerade in die andere Richtung, und sie sah ihn nur von hinten, seinen Mantel, die weiße Kurta. Der Konvoi mußte sehr langsam vorangekommen sein, aber Maya schien es, als ob er in Sekundenschnelle vorbei war, und sie reihte sich dahinter ein und schwamm in der Masse mit. Sie hakte sich bei Saima unter, und sie schoben sich voran. Vor ihnen waren die Rücken der vielen Männer, die endlich aus dem Krieg zurück waren, aus deren Sieg eine eigene Regierung entstanden war, die eine Verfassung für sie schreiben und ihnen eine Nationalhymne und Reisepässe geben würden.
Maya merkte, daß jemand sie am Sari zog; sie versuchte, schneller zu gehen, und drängte sich gegen die Person vor ihr. Saimas Arm rutschte aus ihrem, als sie sich vorzudrängeln versuchte. Dann tippte ihr jemand auf die Schulter. Verärgert drehte sie sich um und sah einen Mann, der mit lachendem Blick den Arm über die Menschen hinweg nach ihr ausstreckte. Sie blieb stehen. Er blieb stehen. Sie standen still, wie Felsen in einem Fluß, und sahen einander an, während die Menschen um sie herum- und zwischen ihnen hindurchflossen. Sie faßte nach seiner Hand, der Hand, die ihr am nächsten war, aber er hielt ihr die andere hin, und sie begrüßten sich richtig. »Hallo, Joy.« Ihr fiel nichts Besseres ein.
»Die Biene Maya.« Sticht wie eine Biene, sagte er immer zu ihr. Es war unmöglich, so stehenzubleiben, sich gegen denStrom zu stellen, deswegen drehte sie sich um und ging weiter. Er folgte ihr. Manchmal gab es Gedränge, und er wurde von hinten gegen sie gedrückt. Sie fing an, ein Revolutionslied zu summen, und hörte, daß er mitsang. Bewegt faßte sie wieder nach seiner Hand.
Da fand Maya sie, die Lücke, wo sein Finger hätte sein sollen. Die Hand in einem dicken Verband. Langsam bewegte sie ihre Fingerspitze über den Knubbel, der jetzt seine Fingerspitze war. Der Verband spannte sich straff darüber. Sie ließ Joys Hand los, drehte sich wieder zu ihm um und starrte ihm ins Gesicht. »Wo ist dein Finger?« fragte sie.
»Den hat die Armee.«
Sie faßte wieder nach der Hand, während von hinten ungeduldig gedrängelt wurde, und brachte die unvollständige Hand an die Lippen. »Lebwohl, du Finger.«
»Lebwohl, Maya«, erwiderte Joy. »Ich gehe weg.«
»Nein, nein, das ist ein Mißverständnis«, sagte sie, »wir müssen ein anständiges Begräbnis für deinen Finger veranstalten.«
»Ich gehe nach Amerika.«
Unmöglich. Sie riß ihre Hand weg. »Jetzt, jetzt willst du
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