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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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weggehen?«
    »Übermorgen.«
    Sie redete sich ein, daß er einen groben Charakter hatte. Daß er sich mit Flüchen und ungehobelten Sprüchen im Krieg durchgeschlagen hatte. Daß er einfach ein Kino geplündert und ein Filmvorführgerät gestohlen hatte, das immer noch in der Gartenhütte ihrer Mutter stand und einstaubte. Sie klammerte sich an diesen Beweis seines schlechten Charakters. »Na dann«, sagte sie. »Mach’s gut.« Und sie schüttelte ihm die Hand, die unversehrte, als wollte sie sagen: Geh nur, du kaputter Kerl, ich brauche dich nicht.

    Maya überlegte, wieviel Joy verloren hatte, im Vergleich zu ihr. Er hatte seinen Bruder an der Front verloren, und als er dann aus der pakistanischen Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war,erfuhr er, daß auch sein Vater tot war. Die Nähe zu diesem Mann tröstete sie, einem Mann, der sehr viel Schlimmeres überlebt hatte als sie.

    *

    In der Gartenhütte mit dem Wellblechdach stand ein Stapel eingestaubter, mit Spinnweben bedeckter Kartons. Als Maya sie durchwühlte, stieß sie auf ihr Zeugnis aus der sechsten Klasse. Durchschnittliche Noten und eine Beschwerde der Lehrerin, sie würde zuviel reden und ständig den Unterricht stören.
    Ein kleiner Schatten in der offenen Tür: Zaid.
    »Na, da bist du ja. Ich habe gestern nach dir gerufen – wo warst du denn?«
    »Ich war in der Schule.«
    »In der Schule? Was hast du denn gelernt?«
    »Französisch.«
    »Französisch. Das ist ja eine tolle Schule. Und du warst ganz sicher nicht bei einer von den Französinnen von oben?«
    »Nein«. Zaid schüttelte den Kopf. »Das war eine richtige Schule.«
    »Und du hast Hemd und Hose angehabt?«
    Er hielt etwas hinter dem Rücken versteckt, das er jetzt hervorzog, einen in braunes Papier verpackten Gegenstand. »Für dich«, sagte er.
    Maya riß es auf. Es war ein brandneues Ludo-Brett mit bunten Spielsteinen und zwei Würfeln. »Für mich?« fragte sie. »Von wem hast du das denn?«
    »Mär-sie«, sagte Zaid. »Das heißt danke schön auf französisch.«
    Maya wiederholte das Wort. »Danke schön.« Sie gab das Spiel an Zaid zurück. »Warum bewahrst du es nicht auf, und wenn du Lust zum Spielen hast, dann bringst du es einfach mit nach unten?«
    »Jetzt kann Dadu auch mitspielen«, sagte er lächelnd undschlüpfte mit dem Brett auf dem Kopf zur Tür hinaus. Maya stöberte weiter in alten Zeitungen, Farbeimern, einem Sack übriggebliebenem Zement, bis sie schließlich das fand, was sie gesucht hatte: den gestohlenen Filmprojektor in seinem Kasten, dessen Scharniere rot eingerostet waren.

    *

    Am Freitag kam Joy, um Maya zu der Party abzuholen. Lächelnd und nach Seife riechend klopfte er an die Tür. Ammu begrüßte ihn herzlich, als er sich bückte, um ihre Füße zu berühren; sie ließ sich sogar von Dallas weglocken, um sich nach seiner Mutter zu erkundigen. Sein Auto roch nach Leder und Rasierwasser. Joy ließ das Fenster herunter und streckte den Ellbogen hinaus, die andere Hand lag entspannt am Lenkrad. »Warum bist du denn eigentlich damals aufs Land gezogen?« fragte er, während sie durch die Stadt Richtung Gulshan fuhren. Maya rutschte auf dem Sitz herum. Sie hatte sich für einen einfachen Baumwollsari entschieden, was sie angesichts der warmen Luft, die durch das Auto blies, und der ersten Knitterfalten jetzt schon anfing zu bereuen. Sie hätte auf ihre Mutter hören und sich ein bißchen hübsch machen, vielleicht einen Seiden- oder Chiffonsari anziehen sollen. »Dhaka hat sich so rasend schnell verändert damals«, sagte sie. »Ich hab’s hier nicht mehr ausgehalten.« Wie hart das klang.
    »Und da hast du einfach dein Studium und alles aufgegeben?«
    »Nein, ich hatte ja nur noch ein Jahr. Ich habe meine Zeit als Assistenzärztin am Rajshahi Medical abgeschlossen. Und dann bin ich einfache Landärztin geworden. Aber genau das brauchen die Leute da auf dem Dorf, jemanden, der ihnen hilft, Kinder auf die Welt zu bringen.« Zu gern hätte sie ihm mehr erzählt, von den Abtreibungen, die sie nach dem Krieg durchgeführt hatte, und daß ihr erst später, viel später klargeworden war, was für eine Schuld sie damit auf sich geladen hatte, eineSchuld, die sie immer noch abzutragen versuchte. Woher sollte er das alles wissen – er war ein einfacher Soldat und das Töten seine Aufgabe gewesen, aber die Kriegsbälger, die Kinder der Vergewaltigungen, waren dem niederen medizinischen Personal überlassen worden, den freiwilligen Helferinnen in den zerlumpten Zelten am

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