Mein fremder Bruder
Rand der Stadt.
Sie fuhren jetzt auf der Road 27 am Abahani Field vorbei. Maya wußte noch, daß sie auf diesem Sportplatz früher mit Sohail Cricket gespielt hatte und im Salwar Kamiz zwischen den Wickets hin- und hergerannt war.
»Und dann warst du sieben Jahre in Rajshahi?«
»Erst war ich in Tangail, aber das war zu nah.« Sie fuhren jetzt sehr schnell über eine breite Prachtstraße mit einem Springbrunnen am einen und einer abstrakten Skulptur am anderen Ende. Maya wollte lieber das Thema wechseln. »Und was gibt es Neues in Dhaka?«
»Ich bin ja auch noch nicht so lange wieder da. Hat sich ganz schön verändert, was?«
»Und wie.«
»Die Straßen sind neu durchnumeriert worden – aber das hast du ja sicher schon mitbekommen.«
Hatte sie. Ganz Dhanmondi war neu durchnumeriert. Niemand wußte, ob er seine Straße beim alten oder beim neuen Namen nennen sollte. Ehemals 13, sagten sie, jetzt 6A. Es war wie eine halb heruntergeschluckte Pille, die einem in der Kehle feststeckte. Vielleicht hofften die Machthaber, daß die Leute vergessen würden, was die Straßen ihnen früher bedeutet hatten: Die Straßen, auf denen sie marschiert, auf denen sie zum Wählen gegangen waren. Road 27 war nicht mehr die Hauptstraße, durch welche die Panzer gerollt waren. Und Road 32 war nicht mehr die Straße, an der Mujib ermordet worden war, wo er auf der Treppe seines Hauses tot umgefallen war, seine Pfeife auf den gefliesten Boden geklappert war, die Blume aus Blut ein Teich, der seine Haare rot färbte. Nein, man konnte nicht mehr sagen: Es ist an der Bottrish Nombor geschehen, man mußtesagen an der 26A – eine neue Straße, an der niemand ermordet worden war, kein Mann und seine Frau, Söhne, Schwiegertöchter, sein Bruder, Neffe, Leibwächter, Fahrer, Torwächter. Und 26A, eine mit einem westlichen Buchstaben verbundene Zahl, war nicht die Art von Zahl, die zu diesen Mordopfern gepaßt hätte. Ja, Maya wußte genau, warum alles neu durchnumeriert worden war.
Den Rest der Fahrt schwiegen sie, Mayas Blick war auf die Straße gerichtet, als sie am alten Flughafen vorbeifuhren, der Kaserne, Mohakhali mit den neuen Bürogebäuden und Fabriken. Schließlich hatten sie Gulshan erreicht, wo alle Grundstücke doppelt so groß und die Straßen voller Autos waren und sogar der Diktator weit weg zu sein schien.
Chottus Wangen glänzten rosa. »Gott, ich sehe Gespenster!« Er schlug Joy kräftig mit einer Hand auf den Rücken. »Wo hast du denn Maya aufgetrieben?«
»Am Shahid Minar«, sagte Joy. »Wir haben Kerzen angezündet.«
Chottu brach in ein tief grollendes Lachen wie ein alter Dieselmotor aus. »Junge, Junge, wo du dich immer rumtreibst! Komm, Maya, komm doch rein. Saima bringt mich um, wenn ich dich zu lange mit Beschlag belege.« Er führte sie durchs Haus und den mit Lichterketten geschmückten Garten zu einem großen, gelben Zelt.
Eine Frau in einem blauen Chiffonsari reichte Chottu ein Glas. »Alle herhören, das ist Maya, unsere alte Freundin aus dem Widerstand.« Er machte eine Bewegung mit dem Glas in Richtung der anderen Gäste. Ein paar Leute drehten sich um und winkten ihr zu. »Was willst du trinken, Maya? Cola? Ein Schlückchen Vino?« Er senkte die Stimme. »Whisky? Bei Paul bekommst du alles, was du willst.« Ein Mann mit Anzug und weißen Handschuhen tauchte neben Chottu auf.
»Saft?« fragte Maya.
Chottu schüttelte enttäuscht den Kopf und zeigte auf Joy. Joysah Maya an, räusperte sich und sagte: »Ich nehme auch einen Saft, bitte.«
»Alter Mistkerl«, sagte Chottu. »Nur, damit ich schlecht dastehe.«
»Ananas, Mango, Tomate, Orange«, sagte der Kellner. Maya hörte ein Kreischen hinter sich, fuhr herum und sah Saima auf sich zustürzen, im Arm einen drallen Säugling.
»Ich bring dich um! Wie kannst du mir das antun! Du bist wieder da und hast mich nicht angerufen?! Joy, du Unmensch, warum hast du mir nicht verraten, daß du sie mitbringst, wolltest mich wohl überraschen, o mein Gott, ich glaub’s ja nicht!« Sie drückte dem Kellner das Baby in den Arm und legte ihre Hände um Mayas Gesicht. »Laß dich mal richtig anschauen. Alhamdulillah, du bist ja kein bißchen älter geworden, du grausame, grausame Frau! Jetzt guck mich bloß an, ich sehe neben dir wie eine verschrumpelte alte Hexe aus!«
Maya schüttelte den Kopf und machte Saima ebenfalls Komplimente, bemerkte den glänzenden Sari, den sie trug, und die sorgfältig um ihr Gesicht drapierten Lockensträhnchen. Mittlerweile
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