Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
Vom Netzwerk:
hatte, als würde sie ihn begraben.
    Maya half Sohail, das Gerät auf die Schulter zu heben und ins Haus zu schaffen. Sie beschlossen, den Kasten auf dem Flur abzustellen und erst einmal zu untersuchen, ohne das Licht anzustellen. Maya hielt die Lampe hoch, während Sohail die Verschlüsse öffnete.
    Alle Teile waren noch da – die beiden runden Filmspulen, eine auf der anderen, das herausragende Objektiv, die kleineren Teile, die Klemmen, die den Film festhielten, die Metallklammern, die sich über den Spulen öffneten und schlossen.
    Piya streckte die Hand aus und strich sacht über die Metallteile. Sohail zog das Filmvorführgerät ganz aus dem Kasten und stellte es auf die stabilen Beine.
    »Ich vermute mal, da wird der Film eingefädelt.« Sohail zeigte es ihr. »Dann geht er da nach oben und da durch den Schacht,und dann fällt das Licht darauf und macht ihn ganz, ganz groß. Der Film selbst ist nicht breiter als zwei Finger. Das Licht vergrößert ihn.«
    »Und wie groß?« fragte Piya.
    »Größer als ein Mensch«, antwortete Sohail.
    Piya hielt den Blick auf ihn geheftet.
    »Manchmal, wenn nur ein Gesicht gezeigt wird, dann kann man alles sehen, dann kann man sogar in die Menschen hineinsehen«, fuhr er fort.
    »Man kann in sie hineinsehen?«
    Maya hatte den Eindruck, das Mädchen würde gleich vor lauter Staunen anfangen zu weinen.
    »Wollen wir mal ausprobieren, ob er noch funktioniert?« fragte Maya. »Ich glaube, irgendwo sind auch noch ein paar Filme.«
    Piya nahm die Hände von dem Gerät und drehte sich zu ihr um. Ihre Augen verschwanden hinter einem See von Tränen. »Ja, o ja, bitte.«
    »Nein«, sagte Sohail und klang auf einmal sehr distanziert. »Das können wir nicht.«
    »Warum nicht?« fragte Maya, erstaunt über den plötzlichen Sinneswandel.
    »Das Gerät gehört uns nicht, wir müssen es zurückgeben.«
    »Ja, aber jetzt ist es doch hier.« Maya verstand ihren Bruder einfach nicht. Eben war er noch völlig begeistert von dem Gerät, und nun tat er so, als wäre er von Anfang an dagegen gewesen.
    Sohail wollte den Projektor zurück in den Schuppen bringen. »Laßt uns lieber nichts machen, was uns später vielleicht leid tut.«
    »Mir wird’s bestimmt nicht leid tun«, sagte Maya. »Und Piya auch nicht. Stimmt’s, Piya?«
    Piya hatte Sohails Sinneswandel ebenfalls bemerkt. Sie entfernte sich ein paar Schritte vom Projektor und hockte sich so hin, wie es auf dem Dorf üblich war, mit dem Rücken an der Wand und den Händen auf den Knien. »Ich weiß nicht.«
    Maya ging neben ihr in die Hocke. »Hast du denn noch nie etwas getan, was dir später vielleicht mal leid tun wird?«
    »Maya, ich bitte dich. Sei doch nicht albern.« Sohail steckte den Projektor zurück in die mit Filz ausgeschlagenen Vertiefungen des Kastens. »Guckt, da ist das Siegel. Modhumita Cinema. Wie oft waren wir schon in dem Kino? Wer weiß, wie Joy das Ding da rausgeschafft hat.«
    »Was willst du damit sagen? Daß dein Freund ein Dieb ist?«
    »Ich sage ja nur, daß während des Krieges eine Menge Sachen passiert sind, aber jetzt ist der Krieg vorbei, und wir müssen uns wie anständige Bürger verhalten und nicht wie Revolutionäre.«
    »Ach, das ist Piya doch bestimmt egal«, sagte Maya. »Ich finde, sie soll einen Film gucken dürfen, wenn sie das will. Haben wir nicht genau dafür gekämpft – für unsere Freiheit?«
    »Das ist ein total dämliches Argument, das weißt du ganz genau. Freiheit hat ihre Grenzen, und man hat auch Verantwortung.« Er ließ den Deckel zuschnappen, als sei die Diskussion damit beendet.
    »Ich habe etwas getan«, flüsterte Piya aus dem Dunkeln. Die Lampe war heruntergebrannt, und der Schein reichte nicht mehr bis zu ihr herüber. Sohail umfaßte mit beiden Armen den Projektorkasten und wollte ihn gerade hochstemmen. Er hielt inne.
    »Was?« fragte er.
    »Etwas sehr Schlimmes.«
    Sohail ging vor Piya in die Hocke. Er kam ihr ganz nah, achtete aber darauf, sie nicht zu berühren. Sie wich vor ihm zurück und drückte sich mit dem Rücken an die Wand. »Es spielt keine Rolle mehr«, sagte er. »Vergiß es. Versuch es zu vergessen.«
    Sie sagte nichts mehr, aber die Geschwister hörten sie laut atmen, als wollten die Worte unbedingt aus ihr heraus, aber Piya wollte sie nicht herauslassen. Maya war nicht dafür, daß Piya vergaß, was ihr zugestoßen war: Sie sollte sich erinnern. Aber sie bedrängte Piya nicht. Alle anderen waren so wild entschlossen zu vergessen, weiterzumachen und all die

Weitere Kostenlose Bücher