Mein fremder Bruder
war zu klein, und Piya saß auf einmal im Gras. »Ich hol noch eine Matte«, sagte Sohail und sprang auf.
Sie waren allein. Piya rupfte Grashalme, während Maya betreten den Blick durch den Garten wandern ließ. Sollten sie über Sohail reden oder den Krieg oder warum Piya da war? Schließlich sagte Piya: »Ihr seid sehr gut zu mir, daß ihr mir erlaubt, hierzubleiben.« Sie zog einen Grashalm aus dem Boden und rollte ihn zwischen den Handflächen.
»Und wo warst du vorher?« fragte Maya.
Piya konzentrierte sich auf den langen Halm und machte Knoten hinein. »In einem Soldatenlager«, sagte sie. »Da hat er mich gefunden, in der Kaserne.«
»Wo wohnt deine Familie?«
»Nicht weit weg. In Trishal. Meinst du, ich sollte lieber heimgehen?«
So hatte sie das nicht gemeint. »Nein, natürlich nicht, du kannst ruhig hierbleiben.« Sie wollte Piya sagen, wie froh sie war, daß sie da war und wieder etwas Leben in ihren Bruder gebracht hat. Sie machte einen unbeholfenen Versuch, herzlich zu wirken. »Bleib, so lang du willst.«
Sohail war mit der Matte wieder da; alle standen auf und gruppierten sich neu.
Piya setzte sich nicht. »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und rannte in die Küche.
»Es geht ihr besser«, sagte Sohail. »Findest du nicht auch, daß sie schon viel besser aussieht?«
»Ja, das stimmt.« Maya wollte ihn fragen, ob es ihm auch schon besserging, aber es schien keinen Anlaß für diese Frage zu geben. Er wirkte ausnahmsweise einmal völlig entspannt, und seine weiße Baumwollkurta leuchtete im letzten Licht. Erschien bester Laune zu sein, gar nicht mehr wie ein Mann, der den Krieg nicht abschütteln kann und eine unbekannte Frau mit nach Hause gebracht hatte. Wie ein normaler Mann. Sie beschloß, ihn auch so zu behandeln.
»Als ich sie gefunden habe, dachte ich, sie würde jeden Augenblick aufgeben und sterben.«
Bevor Maya darauf reagieren konnte, kam Piya zurück in den Garten, in der einen Hand eine Petroleumlampe, in der anderen eine große Schale. »Jhaal Moori«, sagte sie und stellte den scharf gewürzten Puffreis vor sie hin. Als Piya sich eine Handvoll in den Mund steckte, bemerkte Maya eine Narbe, die ihr Handgelenk wie einen Armreif umspannte. Sie betrachtete Piyas Arme genauer: Das andere Handgelenk sah genauso aus. Piya stellte die Petroleumlampe auf den Boden. Von den Narben ihrer Gefangenschaft gezeichnet, war sie, wie durch ein Wunder, hier, saß mit ihnen zusammen im Garten und naschte Puffreis. Was für andere Wunden mochte sie noch mit sich herumschleppen?
Es wurde dunkler. Sie konnten einander jetzt kaum noch erkennen, nur die flackernde Lampe warf einen schwachen, ovalen See aus Licht.
Piya und Sohail hatten Pläne geschmiedet. Ein Kinobesuch. Piya hatte noch nie einen Film gesehen, und Sohail versuchte es ihr zu erklären. Auf einer großen, flachen Fläche waren Menschen zu sehen. Keine richtigen Menschen – richtig schon, aber nicht anwesend. Das waren Schauspieler – Schauspieler kannte sie, sie hatte Jatra-Aufführungen gesehen, wenn sie zu ihr ins Dorf gekommen waren.
»Wir gehen mit dir hin, sobald das Kino wieder aufmacht«, sagte Sohail. »Stimmt’s, Maya?«
Sie nickte. »Wußtet ihr eigentlich, daß Joy während des Kriegs einen Filmprojektor zu uns ins Haus geschleppt hat?« fragte sie.
»Wo hatte er den her?«
»Ich weiß nicht. Aus einem verlassenen Kino, glaube ich.«
»Was ist ein Filmprojektor?«
»Das ist die Maschine, die den Film zeigt.«
»Du hast so eine Maschine?«
»Willst du sie mal sehen?« Joy hatte das Filmvorführgerät, das jetzt irgendwo im Gartenschuppen herumstand, für Ammu besorgt. »Ich glaube, sie ist immer noch da.«
Sohail zögerte. Maya merkte, daß er noch überlegte, ob es ihn unglücklich oder froh machen würde, etwas zu sehen, was sein Freund ins Haus gebracht hatte.
»Ja«, sagte Piya, »ja, ich will die Maschine gerne sehen.« Sie stand auf und klatschte in die Hände.
»Na gut«, sagte Sohail, »zeig das Ding mal her.«
Der Schuppen war ein kleiner Verschlag neben dem Zitronenbaum. Maya ging als erste hinein und hielt die Lampe hoch. Sie stiegen über ein paar Kisten und Kartons und den halben Sack Zement, der im Laufe der Jahre hart geworden war, hinweg.
Der Projektor stand noch genau da, wo sie ihn hingestellt hatten, in eine Ecke gezwängt und mit getrockneten Bananenblättern zugedeckt.
Maya dachte daran, wie sie ihn mühsam aus dem großen Haus geschleppt und zärtlich die Blätter darauf gelegt
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