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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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seine Worte immer gemächlicher aus, so daß ihn die Collegezeitung nach seinem Sieg »die Schildkröte, die den Khan schlug« nannte. An diesem Tag lernte Sohail den Trick, wie man den Augenblick beherrscht, indem man Rhythmus und Tempo eines Gesprächs diktiert, und es war dieser Tag, der ihn später Studentensprecher werden ließ und Gegenstand ausgedehnter Spekulationen unter den Mädchen, dann Demonstrant auf den Straßen, der Parolen gegen die Armee ins Megaphon schrie. Es war jener Tag, der ihn schließlich in den Krieg führte.
    Doch von den Pilgern wußte das keiner. Sie glaubten wahrscheinlich, daß es eine Gabe Gottes war.
    Zaid rannte im Erste-Hilfe-Zelt ein und aus und erzählte von seinen Abenteuern. »Es gibt sogar ein amerikanisches Zelt«, keuchte er. »Guck mal, was ich geschenkt bekommen habe.« Er hielt eine rot-grün geringelte Zuckerstange in Form eines Spazierstocks hoch.
    »Die darfst du nach dem Mittagessen lecken.« Es würde ein sehr spätes Mittagessen werden; es war bereits Zeit für das Nachmittagsgebet. Entlang des Turag-Ufers neigten Tausende und Abertausende von Männern den Kopf und knieten sich in westlicher Richtung hin. Alle waren nach Mekka gewandt, doch sie verbeugten sich zugleich vor der tiefstehenden Sonne, die ihnen blendend in die Augen schien, wenn sie die Arme hoben. Gemeinsam falteten sie die Hände, knieten nieder und berührten den Boden mit der Stirn. Sadschda, Niederwerfung . Maya dachte daran, was ihre Mutter ihr beigebracht hatte: In diesem Augenblick war das Herz höher als der Kopf.
    Zaid führte sie zu einem Zelt und fand ein freies Fleckchen Teppich für sie. Eine unter dem Tschador gertenschlanke Frau ging vorbei und reichte ihnen eine Schale mit feurig scharfenKichererbsen. »As-salamu ‘alaikum«, sagte sie, kniff Zaid in die Wange und verschwand wieder.
    Maya packte ihr mitgebrachtes Essen aus, Huhn und Reis. »Ich habe Abbu gesehen«, sagte Zaid.
    Das Huhn blieb ihr im Hals stecken. »Wo?«
    »Da drüben.« Er zeigte in Richtung der betenden Männer am Flußufer.
    Das war ihre Chance. Bei der Vorstellung, ihn wiederzusehen, überkam sie ein Anflug von Hoffnung. Ein Familientreffen. Sie würde auf ihn zugehen, ihn auf Zaid ansprechen. Vielleicht konnten sie sich ja irgendwo zusammensetzen, sie und ihr Bruder. Sie hatte sein Territorium betreten, war zu ihm gekommen, vielleicht gefiel ihm das ja. Sie betrachtete den Jungen und gestattete sich einen Augenblick lang den Gedanken, wie es wäre, für ihn verantwortlich zu sein. Als allererstes die Schule. Er würde zur Schule gehen. Sie würde ihm beibringen müssen, nicht mitten im Satz wegzurennen und statt dessen den ganzen Tag auf einer Schulbank zu sitzen. Er würde eine Uniform tragen und seine Tiffindose mit auf den Pausenplatz nehmen müssen.
    Sie aßen Huhn und Reis auf und wuschen sich neben dem Zelt die Hände. »Na gut«, sagte Maya, »dann laß uns mal deinen Vater suchen.«
    Sie drängten sich durch den Strom von Pilgerreisenden und gingen an einer Zeltreihe nach der anderen vorbei zum Fluß. In jedem Zelt wohnte eine ganze Sippe – nur Männer –, die ihre Lungis über Wäscheleinen gehängt hatte, um den Raum aufzuteilen. Eine ganze Woche lang aßen, schliefen und beteten sie dort. In den größeren Zelten gab es Lautsprecher und Mikrofone und provisorische Bühnen, auf die berühmte Redner aus Indien, Imame aus Jerusalem oder Schanghai oder Mosambik traten und die Botschaft weitergaben. Maya hatte in den Nachrichten gehört, daß die Ijtema, gleich hinter der Pilgerfahrt nach Mekka, die zweitgrößte Versammlung von Muslimen der Welt sei. Sogar der Diktator selbst würde zur Abschlußkundgebung kommen, um den Segen der geistlichen Führer der Umma zu erhalten.
    Das Gebet ging zu Ende, die Männer erhoben sich, zogen die Schuhe wieder an und wischten sich die Sonne aus den Augen. Zaid zog Maya an der Hand hinter sich her. Sie stemmten sich gegen die Flut von Männern, die das Gebetsgelände verließen, und arbeiteten sich langsam in Richtung Flußufer vor. Große Boote voller Pilger trieben auf dem Wasser und warteten auf eine Stelle, an der sie ankern konnten. Manche der Männer waren so ungeduldig, daß sie hineinsprangen, schwammen, wobei die weißen Kappen auf dem Wasser hüpften, und dann ans Ufer wateten. Wie ein Aal wand Zaid sich durch die Menschenmenge und zog Maya am Arm hinter sich her, bis sie schließlich zu einem kleinen Sandstrand kamen.
    »Da.« Zaid zeigte auf eine Schar

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