Mein fremder Bruder
Männer, die sich unterhielten, in der Mitte der lächelnde, gestikulierende Sohail. Er umarmte einen nach dem anderen, dann löste die Gruppe sich auf. Zaid zögerte einen Augenblick und blickte zu ihr hoch, als warte er darauf, daß sie ihm sagte, was er tun sollte, dann ließ er ihre Hand los und verschwand zwischen den vielen Menschen.
Sohail stand mit hinter dem Rücken verschränkten Händen da und schaute hinaus aufs Wasser. Maya sah seinen Rücken einen Augenblick regungslos an. Sie hatte sich unzählige Male auf diesen Augenblick vorbereitet. Sein Rücken war breit, die Hüften zeichneten sich unter dem Weiß ab, das seinen Körper verhüllte und über den schwarzen Füßen endete; die dick verhornten Hacken steckten in billigen Plastiksandalen.
Er drehte sich um. Sie sahen einander einen Augenblick an, dann breitete er die Arme aus, und sie stürzte sich hinein, so daß sie ganz von seiner weichen Brust, seinem Rosenwasser- und Attarduft umfangen war.
Er küßte sie auf die Stirn. »As-salamu ‘alaikum«, sagte er. Sie hielt sich an ihm fest, er löste sich langsam von ihr.
»Wa ‘alaikum as-salam«, erwiderte sie gegen ihren Willen. »Wie geht es dir?«
»Allahs Gnade sei Dank, es geht mir gut.«
Maya verlagerte ihr Gewicht. Sie wollte so vieles sagen, bedeutungsschwere Worte, aber sie waren unter zuviel anderem in ihr vergraben. »Das mit Silvi tut mir so leid.«
Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie, von der Art, wie er sie ansah, von der Form seiner Lippen beim Sprechen genau gewußt hatte, was er dachte. Aber er hatte gelernt, wie man sein Inneres verbarg, und sein Gesicht verriet ihr gar nichts. »Gott hat sie abberufen.«
Sie wollte ihn berühren. Er wirkte so zerbrechlich und so weit weg. Sie beobachtete den Adamsapfel, der sich an seinem Hals auf und ab bewegte. Sie faßte sich. »Du weißt, daß ich wieder da bin.«
»Ja, das weiß ich.«
Er hatte es gewußt. Er war nicht nach unten gekommen, um sie zu sehen; sie war nicht zu ihm nach oben gegangen. Bruder und Schwester, einst unzertrennlich. Sag’s mir, dachte sie, sag mir, daß ich dir gefehlt habe, daß du dir gewünscht hast, ich würde zurückkommen. Daß du dich mit mir versöhnen willst. Er trat näher ans Wasser, und sie folgte ihm. »Ich – ich hätte gern deine Erlaubnis, Zaid in der Schule anzumelden. An der Road 4 hat eine neue aufgemacht, ich bin bei der Direktorin gewesen, und sie hat sich bereit erklärt, ihn zum Beginn des nächsten Schuljahrs aufzunehmen.« Sie war so schrecklich nervös. Jedes Wort war ein Kampf.
Er blieb stehen. »Ich weiß, daß er sich einsam fühlt.«
Weil du ihn im Stich gelassen hast, wenige Tage nach dem Tod seiner Mutter! »Er ist ein lieber Junge.« Jetzt hatte sie das Falsche gesagt, hatte zu verstehen gegeben, wie wenig sie seinen Sohn kannte.
Sohail schüttelte den Kopf. »Ich habe seine Erziehung Schwester Khadija anvertraut.«
Maya schluckte den Kloß herunter, der ihr vor Zorn in die Kehle stieg. »Erinnerst du dich denn gar nicht daran, wie es war, als Abbu starb?«
Er drehte sich lächelnd zu ihr um, das Lächeln halb vom Bart verdeckt. »Natürlich erinnere ich mich daran.«
»Wie schrecklich das war.«
»Ja.«
Sie vermutete, daß ihm Leiden zwar noch abstrakt bekannt war, aber daß er beschlossen hatte, sich nicht mehr davon berühren zu lassen. Daß er es willkommen hieß. Den Tod seines Vaters, seiner Frau. Gott hatte einen großen Plan, der keinen Platz für Selbstmitleid ließ. Trotzdem gab sie sich nicht geschlagen. »Er ist doch erst sechs! Seine Mutter ist gerade gestorben, er braucht uns, Ammu und mich. Wir sind seine Familie.«
Sohail sagte nichts, sondern wandte nur das Gesicht ab und starrte ins Wasser. Wahrscheinlich würde er ihr jetzt einen Vortrag halten, welche Bedeutung das Wort »Familie« jetzt noch für ihn hatte und daß Maya nichts weiter mehr war als ein Mädchen, das er früher einmal gekannt hatte.
Sie blickte in Richtung Zeltlager, wo Zaid vermutlich auf sie wartete, durch die Reihen stromerte und mit den Armen schlenkerte. Sie wollte Sohail gerade von neuem bedrängen und ihre Argumente noch einmal vorbringen, doch er streckte den Arm nach ihr aus und zog sie an sich. Er sah seiner Schwester direkt in die Augen und erweckte all die Gefühle, die sie früher für ihn gehabt hatte, wieder zum Leben.
Da war er. Das war ihr Augenblick. Sie hatte sich diesen Moment so oft vorgestellt – es war ein Traum, ein vom ständigen Geträumtwerden
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