Mein fremder Bruder
schrecklichen Dinge,die in der Vergangenheit passiert waren, hinter sich zu lassen. Es wäre grausam, Piya diese Chance zum Neuanfang vorzuenthalten.
»Es spielt keine Rolle mehr«, sagte Sohail. »Egal, was es war, es war nicht deine Schuld.«
»Genau«, bekräftigte Maya. »Gib dir keine Schuld.«
Sie hatten ihr doch nur helfen wollen. Aber nach diesem Abend war Piya verändert. Etwas hatte sich in ihr gemeldet, hatte herausgewollt, und sie hatten es zum Schweigen gebracht.
Ein paar Wochen später war sie verschwunden.
1984
April
Die Schlange ging einmal rund um das ganze Zelt, bis sie wieder am Eingang angekommen war. Etliche Leute kauerten am Boden und hielten sich die Hände zum Schutz gegen die stechende Sonne vor die Augen oder beruhigten ihre Säuglinge. Beim Warten wurde erzählt und ein wenig Proviant miteinander geteilt. Maya hörte den Ruf des Muezzin und sah Menschentrauben, die dem Gebetsgelände zustrebten. Doch die Leute in der Schlange rührten sich nicht vom Fleck: Sie wollten ihre kostenlose ärztliche Behandlung.
Sie hatten die üblichen Erkrankungen: Durchfall, Dehydrierung, schlecht verheilte Knochenbrüche, Wunden, die hätten genäht werden müssen, aber es war kein Krankenhaus in der Nähe. Gelbsucht, Malaria, Typhus. Fast den ganzen Morgen hatte Maya gebraucht, um eine gewisse Ordnung in die Erste-Hilfe-Stelle zu bringen. Die anderen Ärzte – junge Assistenzärzte und Medizinstudenten, die noch nie aus der Großstadt herausgekommen waren – waren froh, daß ihnen jemand sagte, was sie tun sollten. Maya brüllte Befehle: Sie sollten durch die Schlange gehen und die Patienten in Gruppen unterteilen. Die Kleinkinder kamen als erstes dran. Ansteckende Krankheiten abfragen. Zwei Schlangen bilden, eine für Männer, eine für Frauen. Mittags untersuchte sie dann alle sieben Minuten einen neuen Patienten, und ein Mädchen mit Schwangerschaftsdiabetes hatte sie umarmt und geweint. Vor Aufregung schauderte es Maya ein wenig. Es war gut, daß sie hergekommen war.
Ihr Bruder war auch da, irgendwo zwischen den Pilgern. Das wußte sie von Zaid. »Abbu ist bei der Ijtema«, hatte er gesagt. Oben im Haus hatte sich alles geleert; es war kein Getrappel vonder Decke mehr zu hören, und es gab auch keine Trupps von Jamaatis, die sich vor dem Tor sammelten.
»Vielleicht können wir ihn ja da besuchen«, sagte Zaid. Jemand hatte ihm am Morgen den Kopf geschoren; in seinem Nacken waren zwei rote Schnittwunden. Sie dachte darüber nach. Vielleicht wurde es Zeit, mit Sohail zu reden.
Die Ijtema bot allen Pilgerreisenden kostenlose medizinische Behandlung an. Da war es nicht schwierig für Maya, mitzuarbeiten und einen Bereich für Frauen mit Vorhängen abzutrennen. Und jetzt war sie da. Inmitten von Millionen Menschen. In gewisser Weise war es einfacher, ihm in dieser Umgebung gegenüberzutreten, in dem seine Fremdheit multipliziert – die tausendfache Vervielfältigung von Männern wie ihm mit Bärten und weißen Gewändern –, aber leichter verständlich war. Er war seit ihrer Rückkehr nicht mehr zu Hause gewesen, war von einer Jamaat zur nächsten gereist, und es war eine Erleichterung gewesen, daß sie sich ohne die Furcht vor einem Zusammentreffen mit ihm wieder an Haus und Stadt gewöhnen konnte. Aber jetzt war sie soweit.
Obwohl Sohail noch relativ neu in der Tablighi-Bewegung war, war er bereits für seine Predigten bekannt. Maya wettete, daß keiner von den Leuten, die jetzt an seinen Lippen hingen, ahnte, wo er gelernt hatte, so zu reden. Würden sie Maya fragen, könnte sie ihnen erzählen, wie ihr Bruder mit sechzehn den pakistanischen Champion des Debattierclubs besiegt hatte, den äußerst gutaussehenden Iftekar Khan. Argumentieren Sie pro oder contra: Verringert sich die Gefahr eines weiteren Weltkriegs durch den Rüstungswettlauf?
Sohail hatte sich Iftekar Khan ganz genau angesehen und festgestellt, daß er in Wirklichkeit ein sehr unsicherer junger Mann war. Zweimal war er Sieger im Debattierwettbewerb der pakistanischen Colleges geworden, und damit war er zu hoch gestiegen: Er hatte schreckliche Angst, seine Fans zu enttäuschen. Also legte Sohail eine Pause ein, die länger als notwendig war, bevor er zu seiner zweiminütigen Einleitung anhob.Und er sprach sehr langsam. Iftekar rammte sich bereits die Finger zwischen Hals und Hemdkragen und versuchte seinem dicker und dicker werdenden Hals etwas Luft zu verschaffen, weil er die Stille nicht aushalten konnte. Und Sohail dehnte
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