Mein fremder Bruder
gekämpft hatte und wer sie gewesen war und wer zu bleiben sie sich geschworen hatte. Als sie der Rednerin jetzt zuhörte, fühlte sie sich in einen anderen Körper zurückversetzt, einen, der nicht all die Monateund Jahre lang einsam gewesen war, der nicht von zu Hause weggegangen war und das letzte Jahrzehnt achtlos zu Boden getrampelt hatte, einen, der die Erinnerungen im richtigen Augenblick heraufbeschwören und wütend werden konnte, wenn der Augenblick für Wut da war.
Sie klatschte, wenn die andern auch klatschten, zwischen Jahanara Imams Sätzen. Es wurde heiß im Zimmer, und zwischen dem Dickicht aus Philodendronranken fiel direktes Sonnenlicht ein. Der Deckenventilator wurde angeschaltet, und die Frauen glätteten die Falten ihrer Saris, die in der Zugluft aufflogen. Maya hielt die Seiten ihres Notizbuchs fest.
Als Jahanara Imam geendet hatte, stand Mohona wieder auf. »Wie viele von Ihnen haben Angehörige im Krieg verloren?«
Viele Hände gingen nach oben, auch Mayas Hand.
»Madam«, sagte ein Mann im grauen Anzug, »ich habe Vater und Mutter verloren. Sie waren Professoren und wurden in der Uni erschossen.« Eine Stimme hinten aus dem Raum fügte hinzu: »Meine Verwanden haben in Alt-Dhaka gewohnt. Mein Onkel und mein Großvater wurden ermordet.«
Immer mehr Leute meldeten sich, gaben den Tag ihres Verlusts und dessen Umstände bekannt. Zwischen die Fronten geraten. Von der pakistanischen Armee beim Überfall auf ihr Dorf erschossen. In der Kaserne zu Tode gefoltert.
Maya klammerte sich an ihrem Stuhl fest, als sie die persönlichen Bekenntnisse hörte. Würden sie der Reihe nach alle aufstehen und bekennen müssen, wen sie verloren hatten, was genau sie während des Krieges getan hatten? Sie merkte, daß sie im Luftstrom des Ventilators zu zittern anfing. Eine Frau redete davon, daß alle Greueltaten des Krieges dokumentiert werden müßten. »Wir sollten eine Liste machen«, schlug sie vor, »und alle Mörder beim Namen nennen.«
Maya hob die Hand. Mohona zeigte auf sie. »Ich glaube, als erstes müßten wir auch unsere eigenen Fehler eingestehen. Daß wir auch Sünden begangen haben. Es ist so viel im Laufe des Krieges passiert – wir waren nicht nur Opfer.«
Es wurde auf einmal sehr still im Raum.
Leutnant Sarkar wandte sich ihr zu und sagte freundlich: »Sie sprechen zu einem Raum voll leidender Seelen, meine Liebe.«
Sie hörte die Leute leise atmen, die hofften, daß der peinliche Augenblick vorübergehen würde. Schließlich ergriff Mohona das Wort. »Jeder von uns trägt seine ganz eigene Last. Doch wir sind hier, um über die Kollaborateure zu reden. Wir wollen uns auf diese Aufgabe konzentrieren. Wenn wir die Greueltaten auf systematische Art und Weise dokumentieren, wird Ghulam Azam sicherlich keine Erlaubnis bekommen, dauerhaft in Bangladesch zu bleiben.«
Die Stimmen erhoben sich wieder, und Maya saß mit einem scharfen Stechen unter den Rippen da. Sie dachte an die Menschen, die sie im Krieg verloren hatte, derentwegen auch sie die Hand gehoben hatte. Doch sie hatte auch Dinge getan, die ihr jetzt wieder überdeutlich vor Augen standen. Sie drehte sich zu Joy um. »Ich muß weg«, flüsterte sie.
»Warte doch – es ist fast vorbei. Noch zehn Minuten oder so.«
Sie konnte nicht mehr warten. Sie stand auf und stieg über die Knie von Leutnant Sarkar hinweg. Am Ende der Stuhlreihe stieß sie eine Teetasse um, und bei dem Geklapper wurde es wieder still im Raum. Sie murmelte eine Entschuldigung und floh. Sie stürmte hinaus ins letzte Abendlicht auf eine stark befahrene Straße, auf der Lastwagenkolonnen vorbeidonnerten. Weiter entfernt standen zusammengewürfelte Blechhütten, und als sie näher kam, sah Maya, daß sie sich bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckten, unendlich viele Reihen zerbrechlich wirkender Konstruktionen, die mit aufgeklebten Papierstücken, Filmplakaten, Kalenderblättern, Zeitungen, Jute und Kuhfladen zusammengehalten wurden. Sie fand eine umgedrehte Kiste und setzte sich darauf.
»Ich kann’s dir einfach nicht recht machen.« Es war Joy. Er ging neben ihr in die Hocke.
»Du bist ja nicht mein Fremdenführer.«
»Aber du warst doch so lange weg. Ich will nicht, daß du einen falschen Eindruck von Dhaka bekommst.«
»Ich könnte dir auch ein paar Sachen zeigen, weißt du.«
»Was zum Beispiel?«
»Guck dir das Elendsviertel da an. Weißt du, was das Schlimmste ist, wenn man da wohnt? Und eine Frau ist?«
»Was?«
»Wasser.«
»Warum,
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