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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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orangerot beleuchtete, mußte sie an die vielen liebevollen Momente mit ihrer Mutter denken. So war das Leben mit ihrer Mutter – Erinnerung um Erinnerung, die wie die Federn eines Singvogels viele Lagen bildeten und da waren, um sie warm zu halten, oder mit denen sie, wenn notwendig, losfliegen konnte. Ihre Mutter verlieh ihr Flügel, anders konnte man es nicht sagen.
    »Auf der Straße ist ja schrecklich viel los«, sagte Maya und nippte an dem Tee, den der Phuchkaverkäufer ihnen mittlerweile gebracht hatte.
    Ihre Mutter nickte. »Alles wird immer schneller. Jetzt sind es erst dreizehn Jahre seit der Unabhängigkeit, und man erkennt nichts mehr wieder.«
    Dreizehn. Ihr mißratenes Wunschkind von einem Land war erst dreizehn. Das klang nicht sehr alt, aber in der Zwischenzeit waren schon die Panzer durch die Straßen gerollt, mehrere Staatsführer waren gewählt und ernannt worden. Zwei Präsidenten waren bereits ermordet worden. Ihr Land hatte schon in den Kinderschuhen angefangen, sich selbst aufzufressen, die Urvölker im Süden zu massakrieren, Dörfer hinter Staudämmen zu ersäufen, die uralten Bäume im Modhupur Forest abzuhacken. Ein Land, in dem alles schnell ging: Schnell kochte die Wut über, leichtfertig zerstörte es sich selbst.
    Die Phuchkas waren aufgegessen, der Tee in den Tassen kühlte langsam ab. Maya wünschte, der Tag würde nie zu Endegehen. »Ich weiß was«, sagte sie. »Laß uns zum Neuen Markt fahren. Ich will dir einen Sari kaufen.«
    »Warum?«
    »Weil ich deine letzten sieben Geburtstage verpaßt habe, und siebenmal Id – vierzehn, wenn man das große und das kleine Fest zählt.« Noch als sie das sagte, wurde ihr klar, daß kein Sari der Welt in der Lage sein würde, so viele versäumte Geschenke aufzuwiegen. Aber sie fand den Gedanken schön, zu ihren Lieblingsgeschäften am Neuen Markt zu gehen und mit den Sariverkäufern ausgiebig um den Preis zu feilschen, während diese kalte Getränke für ihre Kundinnen kommen ließen und die Stoffe an den Hüften ihrer halbwüchsigen Söhne vorführten.
    »Na gut«, sagte Rehana, »laß uns gehen.«
    Der Rikschafahrer bog auf die Mirpur Road ein und strampelte an Gawsia und Chandni Chawk vorbei. Gerade, als er in den Markt abbiegen wollte, kam ihnen eine Menschenmenge aus der Fuller Road entgegen, eine Wand aus Menschen, die auf sie zumarschierte und ein großes, handgemaltes Spruchband hochhielt.
    »Die Chattra-Liga«, sagte Maya, die das Symbol aus ihren Studentenzeiten wiedererkannte. Die Demonstranten füllten langsam den Platz vor dem Tor des Neuen Markts. Die Megaphone plärrten. Maya erkannte sich in den vielen Protestierern wieder. »Was wollen die?«
    Die Sprechchöre übertönten alles. Es ging darum, daß der Vizekanzler gefeuert worden war. Und um die Korruption des Diktators.
    Ein Lastwagen fuhr vor, und uniformierte Männer sprangen unter der geöffneten Plane heraus. Die Demonstranten traten einen Schritt zurück, hielten das Banner aber immer noch in einer durchhängenden Linie hoch. Ein Mann am Megaphon sagte: »Wir sind in friedlicher Absicht hier. Wir wollen gehört werden.«
    Die Uniformierten gingen hinter Schildern und Knüppeln in Stellung.
    »Die Chattra-Liga verlangt –«
    Als die Polizisten angriffen, wirkten sie wie wütende Hausfrauen. Sie prügelten mit ihren Nudelhölzern auf die Rücken der vorne Stehenden ein. Das Spruchband fiel in sich zusammen, sank zu Boden und verfing sich in den Beinen der Protestierer. Die Demonstranten flüchteten in alle Richtungen, aber die Polizisten verfolgten sie und prügelten auf sie ein, bis sie zusammenbrachen und einer nach dem andern unter den Achseln gepackt und zum wartenden Laster geschleppt wurden.
    Maya sah einen Jungen, der sich den Kopf mit beiden Händen hielt, und zwischen seinen Fingern floß das Blut heraus. Der Rikschawallah versuchte, kehrtzumachen, aber hinter ihnen waren zu viele Autos, und vor ihnen wurde die Straße von Polizeiwagen versperrt. »Bitte verzeihen Sie mir, aber Sie müssen leider laufen«, sagte er und weigerte sich, den Fahrpreis anzunehmen. »Beeilen Sie sich, wenn Sie nicht jetzt gleich gehen, sitzen Sie hier stundenlang fest.«
    Sie liefen in westlicher Richtung auf dem Bürgersteig, weg vom Neuen Markt. Hinter ihnen stiegen Tränengaswolken auf. Maya faßte nach dem Ellbogen ihrer Mutter. »Schnell, Ammu.« Sie fingen an zu rennen, bogen im Dauerlauf von der Mirpur Road ab und überquerten die Brücke. Sie kamen in eine Seitenstraße, und

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