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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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weil es verschmutzt ist?«
    »Das auch, aber das ist nicht alles. Wenn man als Frau in dem Slum da wohnt, dann muß man mitten in der Nacht aufstehen, wenn es noch dunkel ist, und bis zum Rand der Hüttensiedlung laufen und da den Sari heben und sich über den offenen Abflußkanal hocken. Und dann schleicht man sich auf Zehenspitzen zurück zum Mann ins Bett, und den ganzen Rest des Tages mußt du warten, warten, warten, bis es endlich wieder dunkel ist, dein Bauch fühlt sich an, als ob er voller Nadeln wäre, deine Eingeweide brennen wie verrückt, aber du kannst nichts dagegen tun, nein, du darfst nicht, du mußt warten, bis es dunkel ist und alle Männer endlich schlafen, damit du einmal am Tag ungestört austreten kannst.«
    Er hielt den Kopf gebeugt, und sie sah, wie sich seine Hand auf ihre Hand zubewegte, und sie zog die Hand weg – weil sie nicht wollte, daß er glaubte, etwas ließe sich durch eine so einfache Geste lösen, die Grausamkeit ihres Landes, die Kollaborateure, die frei herumliefen und nicht für Mord und Vergewaltigung bestraft wurden. Weil es Dinge gab, die nicht mit einem Händedruck beseitigt werden konnten, Erinnerungen und Sünden und der Zustand der Menschheit.
    Sie wandte sich ihm zu. »Ich bin nicht für das Herumsitzen in Versammlungen gemacht.«
    »Da gehörst du auch nicht hin. Du streitest dich zu gern.«
    Sie lachte. »Du hast recht.« Sie lehnte sich an ihn. »Besorg mir eine Rikscha.«
    »Ich fahr dich heim – zum Taxifahrer tauge ich wenigstens.«
    *

    Maya hatte Zaid gerade die Zahlen von eins bis zehn auf englisch beigebracht, und er sagte sie laut und stolz auf, als das Telefon klingelte. Maya sah auf die Uhr – sechzehn Uhr, es mußte für das Mädchen von oben sein, das allerdings nicht zu sehen war. Sie nahm ab. »Hallo?«
    Es knirschte in der Leitung. »Hallo?« Eine Frau. »Maya?«
    Nazia. »Nazia?« Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.
    »Maya Apa.« Sie benutzte die respektvolle Anrede. »Wie geht es dir?«
    »Danke, es geht mir gut.«
    »Und deiner Mutter?«
    »Ihr geht es auch gut. Und wie geht es deinen Kindern?«
    Maya hörte, wie Nazia sich räusperte. »Ich habe deine Briefe bekommen. Beide Briefe.«
    Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was sie geschrieben hatte. Die lang ausschweifenden Erklärungen, die Entschuldigungen. »Es gab viel, was ich dir sagen wollte.«
    Nazia atmete laut in den Hörer aus. »Es tut mir leid, daß du weggehen mußtest, auf diese Art.«
    »Es war alles meine Schuld. Ich hätte nie sagen sollen, daß du im Teich baden darfst.«
    Eine Pause. »Heute darf ich nach Hause, sagt der Arzt.«
    Sie war also die ganze Zeit noch im Krankenhaus gewesen. »Die Kinder werden sich freuen, daß du wieder da bist.«
    »Ich muß jetzt Schluß machen.«
    »Na gut«, sagte Maya. Sie wollte »Gott schütze dich« hinzufügen, aber bevor sie etwas sagen konnte, war die Leitung tot. Sie drückte mehrere Male auf die Gabel, aber es gab nur das sandige Rauschen, nicht einmal ein Freizeichen.

    *
    »Zaid, was weißt du über deinen Großvater?«
    »Er ist tot.«
    »Das stimmt. Wußtest du schon, daß er das gleiche Kinn hatte wie du?«
    Das hatte sie sich ausgedacht. »Wirklich?«
    Sie legte ihren Daumen auf das Grübchen an seinem Kinn. »Ja, genau wie deins.«
    Sie fuhren zusammen mit der Rikscha zum Friedhof. An diesem Tag hatte er Sandalen und eine saubere Kurta an, die stark nach Waschmittel roch. Die Worte auf dem Grabstein konnte er schon fast vorlesen: MUHAMMAD IQBAL HAQUE .
    »Weißt du eigentlich«, sagte Maya, »daß ich genauso alt war wie du, als mein Vater gestorben ist?«
    »Hast du geweint?«
    »Nein, ich habe nicht geweint. Ich wußte nicht, daß ich traurig sein sollte.«
    »Ich auch nicht.«
    Das hatte sie auch schon bemerkt. Sie hatte ja gesehen, wie er über seine Mutter redete und seine ganze Zuversicht in die Erinnerung an sie legte – das Ludo-Brett, ihr Versprechen, er dürfe bald zur Schule gehen. »Deine Ammu war sehr schön«, sagte Maya. »Sie hatte graue Augen, genau wie du.«
    Zaid ging einmal um das Grab herum und klopfte dabei mit der flachen Hand auf den Grabstein.
    »Willst du etwas zu deiner Mutter sagen, Zaid?«
    »Aber die ist doch gar nicht hier.«
    »Ja, aber sie kann dich trotzdem hören. Willst du ihr etwas sagen?«
    Er blieb stehen und ging in die Hocke. »Ammu«, sagte er, »ich will ein Fahrrad haben.« Dann legte er die offenen Hände wie eine Schale aneinander, wie er es gelernt hatte, und sprach das

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