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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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auf ihn.«
    »Und Ihrer?«
    »Jetzt laß sie doch in Ruhe, Shafaat, sie ist nicht verheiratet.«
    Er zog die Augenbrauen hoch. Sie konnte sich richtig vorstellen, was er jetzt dachte: Das arme Mädchen, hat immer noch keinen Mann gefunden. Aber er überraschte sie, indem er den Daumen hochreckte. »Ich habe eine Tochter, und ich sage immer zu ihr: Heirate erst dann, wenn du deinen Prinz gefunden hast. Männer sind Schweine.«
    »Unglaublich«, antwortete Maya, »wir sollten Sie auf der Stelle im Verein eintragen lassen – der erste männliche Feminist Bangladeschs.«
    »Genau!« sagte er und hieb mit der Faust auf den Tisch. »In der nächsten Ausgabe geben wir es offiziell bekannt.«
    »Dann bist du wenigstens berühmt«, erwiderte Aditi trocken. »Kommen Sie mit, Maya, ich zeige Ihnen den Rest unserer bescheidenen Hütte.« Sie gingen durch einen Gang in einen kleineren Raum. Hinten stand ein Schreibtisch mit einem langen, rechteckigen Kasten darauf. »Nehmen Sie sich bloß vor Shafaat in acht. Er ist ein echter Charmeur.«
    »Er erinnert mich an meinen Bruder.« Die Art, wie er scherzhaft mit der Faust auf den Tisch gehauen hatte, hatte den alten Sohail vor ihrem inneren Auge aufblitzen lassen.
    »Im Ernst? Ich dachte, Ihr Bruder wäre einer von den Strenggläubigen.«
    »Er war früher ganz anders.« Niemand schien sich mehr an den alten Sohail zu erinnern. Sobald sie hörten, er sei Mawlana geworden, vergaßen sie, wie er vorher gewesen war. Nur Maya hatte das Bild immer noch im Kopf: Die Hände in den Taschen seiner engen Jeans, das Beret mit dem roten Stern in der Mitte auf dem Kopf.
    Aditi führte ihr die Typensetzmaschine vor. Jeder Buchstabe mußte von Hand gesetzt werden. Die Worte wurden dann in Druckerschwärze getaucht und aufs Papier gedrückt. »Probieren Sie’s ruhig mal aus«, sagte Aditi. Maya zog ein paar Buchstaben heraus und ordnete sie auf dem Tablett an. Tunkte sie in schwarze Farbe. IchheißeMayaHaque .
    »Die Zwischenräume zwischen den Wörtern nicht vergessen, Frau Doktor.«

    *

    Die Tasten der Schreibmaschine klemmten. Wahrscheinlich nahm sie es Maya übel, daß sie so viele Jahre unbeachtet unter Ammus Bett gestanden hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Maya und ihre Schreibmaschine unzertrennlich gewesen waren; sie hatte sogar am Abendbrottisch weitergetippt. Und wenn sie nicht auf den Tasten herumhackte, kritzelte sie auf jedem Fetzchen Papier herum, das sie finden konnte, alten Zeitungen, einem Stückchen braunem Papier, in dem das Gemüse eingepackt gewesen war. Jetzt hatte sie Mühe, Worte zu finden. Chronik einer Ärztin an vorderster Front ? Das klang zu pompös. Was sie dort getan hatte, hatte nichts Sentimentales oder Erhabenes an sich gehabt. Maya fing mit dem Diktator an und beschrieb den Anblick, als er Blumen am Denkmal der Märtyrer niedergelegt hatte. Sie riß das Blatt aus der Schreibmaschine. Das wollte doch kein Mensch lesen. Fünfhundert Wörter über das, was wirklich auf dem Land vor sich ging. Die Wahrheit. Sie dachte an die vielen Kinder, die sie auf die Welt gebracht hatte, und an all die Mütter, deren Leben sie nicht hatte retten können. Sie dachte an Nazia – Nazia, die zur Prügelstrafe verurteilt worden war, weil sie am heißesten Tag des Jahres ihre Füße kühlen wollte. Sie fing mit dem Anfang an. Ich kannte einmal eine junge Frau, die hieß Nazia. Blödsinn – sie konnte natürlich keine echten Namen benutzen. Nazia. Zania. Inaaz. Aizan. Ich kannte einmal eine junge Frau, die hieß Aizan.

1972
April
    Sohails Freunde konnten seine Bekehrung nicht verstehen, weil sie nicht wußten, was vorher gewesen war. Sie hatten gedacht, er führe ein glückliches Leben, sei »fröhlich und munter«. Bruder Leichtfuß mit den Schlaghosen. Glücklich und zufrieden, fröhlich und lustig. Für jeden Spaß zu haben, bis er Gott fand. Hatte immer sehr gut ausgesehen und beim Lächeln die Zähne blitzen lassen.
    Hätten seine Freunde ihn besser gekannt, hätten sie gewußt, daß die blitzenden Zähne, das Lächeln, der fröhliche Leichtfuß im Krieg auf der Strecke geblieben waren. Gestohlen von einem Mädchen, deren Folterknechte ihr den Kopf geschoren hatten, damit sie sich nicht aufhängen konnte. Geschlechtertrennung, Predigten – all das hatte wie von selbst das Loch gefüllt, das von seinem alten Geist der Auflehnung übriggeblieben war.
    Viele hatten die Sache mit dem Buch falsch in Erinnerung und gingen davon aus, daß Silvi ihm das Buch gegeben und ihn

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