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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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zum Koranlesen angehalten hatte, weil sie ihren Mann im Krieg verloren und Gott gefunden hatte, weil sie den Kopf bedeckt hatte, als das noch niemand machte, weil sie der Politik den Rücken zugewandt und sich nur noch mit dem Leben nach dem Leben beschäftigt hatte.
    Dabei war es Rehana gewesen, die Sohail das Buch gegeben hatte, einige Monate nach seiner Rückkehr aus dem Krieg. Das kam so:

    Es ist Mittwoch, Rehanas großer Einkaufstag, und sie geht am Neuen Markt entlang, wundert sich, wie stark die Preise seit der Vorwoche gestiegen sind, fragt sich, ob sie sich ein Huhn, einehalbe Hammelkeule leisten kann, als sie auf der anderen Straßenseite jemanden sieht, den sie kennt. Ihren eigenen Sohn. Sie erhascht nur einen ganz flüchtigen Blick auf die Person, aber sie weiß genau, daß er es ist. Er steigt aus einer Rikscha aus, und sie will gerade die Hand heben und ihm etwas zurufen, doch er blickt starr an ihr vorbei, er wirkt nicht wie er selbst. Er überquert die Straße, kommt auf sie zu, sieht sie aber nicht, und er ist ihr Sohn und zugleich auch nicht, als er mit starrem Blick an ihr vorbeigeht. Sie dreht sich in die Richtung, in die er schaut: ein Mann in einer anderen Rikscha. Ohne ein Wort geht er auf den Mann zu, reißt ihn aus der Rikscha und schlägt ihm ins Gesicht. Drei Mal, drei Fausthiebe. Dann dreht Sohail sich um und kommt mit zuckenden Schultern auf Rehana zu, sagt ihr, daß er den Mann kennt, daß der Mann schreckliche Dinge getan hat, daß er diese schrecklichen Dinge gesehen hat, und sie weiß jetzt, daß es diese Bilder sind, die ihn zwingen, nachts im Flur auf und ab zulaufen. Sein Kissen ist tränennaß und sein Mund zur steifen Grimasse verzogen, auch wenn er versucht, zu lächeln und so zu tun, als wäre alles wieder normal.
    Und weil Rehana nicht weiß, was sie tun soll, weil Sohail ihr gesagt hat, daß sie nie darüber sprechen soll, hat sie ihm das heilige Buch gegeben. Das Buch hat ihr in so vielen schweren Zeiten geholfen, die sie sonst nicht überlebt hätte. Doch er schüttelt den Kopf, weil er zur Auffassung gelangt ist, daß das Buch Teil des Problems war, vor dem Krieg, vor Bangladesch. Weil die Leute zu sehr am Buch oder zumindest an ihrem Verständnis des Buchs hingen, mehr als aneinander, an ihren Nachbarn, an ihrem Land. Sie, die Revolutionäre, hatten sich über den Glauben erhaben gefühlt, den sie als Trost für einfache Menschen betrachteten. Sohail wendet das Gesicht vom Buch weg und winkt ab.
    Das tut Rehana weh, sie hat immerhin auch ihre Erinnerungen, an ihren Sohn, an früher, an einen Jungen, der nicht einfach abwinken würde, wenn seine Mutter zu ihm spricht, der nicht auf offener Straße einem Fremden ins Gesicht schlagen würde. Daß ihr Sohn gewaltsame Handlungen gesehen und selbst begangen hat, ist nicht das überraschende für sie – den immer noch schwelenden Zorn so lang nach dem Ende der Kämpfe kann sie nicht verstehen.
    Sohail lehnt das Buch ab. Es staubt auf seinem Schreibtisch ein, und dann stellt er es ganz oben ins Regal, wo er es nicht sieht.
    Rehana beschließt, ihm daraus vorzulesen. Du brauchst ja nicht zuzuhören, sagt sie, sitz einfach nur bei mir.

    Und damit fing es an. Es tat weh, daran zu denken, weil alles, was danach geschah, auf Sohails erste Schritte hin zu Gott zurückgeführt werden konnte. Alles fing mit dem heiligen Buch an, das Rehana ihm gegeben hatte, das auf seinem Bücherregal einstaubte, das sie zwischen Neruda und Ghalib herauszog, das sie laut vorlas, während er frühstückte, dem er nicht widerstehen konnte, das er erst auswendig zu lernen, dann zu verstehen, dann zu lieben begann. Das sich einen Weg in sein Herz bahnte, als er es zu lesen verstand – das zu Offenbarung und Bekehrung führte, zu einer Verwandlung, deren Alchimie seiner Familie ein Rätsel bleiben sollte.

1984
Juni
    Mehrere Monate nach der Party bei Chottu und Saima rief Joy mit einer weiteren Einladung an. »Die Party hat dir nicht so schrecklich viel Spaß gemacht, oder?«
    »Dir etwa?« Sie freute sich, seine Stimme zu hören. »Warum hast du dich denn gar nicht gemeldet?«
    Er lachte. »Ich habe auf einen guten Anlaß gewartet, und der hat sich gerade ergeben.«
    »Aha, und der wäre? Ich hoffe, nicht noch ein schicker Tanzabend mit Whisky?«
    »Biene Maya, du bist hart wie ein Stück Kandiszucker. Nein, diesmal ist es etwas ganz anderes – ich dachte, vielleicht möchtest du ja mal die andere Seite kennenlernen.«
    »Was für eine andere

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