Mein fremder Bruder
Seite?«
»Leute, denen die gleichen Sachen wichtig sind wie dir.«
»Nein danke. Hab ich schon. Du erinnerst dich an Aditi? Ich habe sie auf der Party kennengelernt. Sie hat mich in ihre Zeitungsredaktion eingeladen. Der Herausgeber hat mir eine Kolumne gegeben.«
»Shafaat?«
»Du kennst ihn?«
»Den kennt jeder.«
Wie er jeder sagte, gefiel ihr nicht. Maya wollte es ihm gerade sagen, da fuhr er fort: »Ich meine richtige Revolutionäre. Ich versprech’s dir, du wirst es nicht bereuen – ich hol dich heute nachmittag um drei ab.« Bevor sie antworten konnte, hatte er schon aufgelegt. Echte Revolutionäre – er wußte, daß sie dem nicht widerstehen konnte, auch wenn es nur ein Witz war. Jedermann wußte, daß es keine echten Revolutionäre mehr gab,nicht in Dhaka und im Rest der Welt auch nicht. Es war immerhin 1984.
Sie fuhren nach Kolabagan. Die Frau, die ihnen die Tür öffnete, stellte sich als Mohona vor. »Kommt mit«, sagte sie und ging den beiden durch einen unbeleuchteten Korridor voran, der nach Schimmel und alten Büchern roch. Der Korridor führte zu einem Salon mit großen Fenstern auf einer Seite. Philodendronpflanzen rankten sich an den Gitterstäben empor und streckten die Fühler nach der Decke aus. Eine Handvoll Leute war schon da und saß in einem lockeren Kreis. Maya war seit Ewigkeiten bei keiner Versammlung mehr gewesen, aber alles wirkte vertraut: die Frauen in den schlichten Baumwollsaris, die einfachen, mit Jute bespannten Sitzmöbel, der Geruch nach Papier und Räucherstäbchen. Sie trennte sich von Joy und nahm neben einem Mann in Uniform Platz.
»Guten Tag, ich heiße Sheherezade«, stellte sie sich mit ihrem formellen Vornamen vor.
»Leutnant Sarkar«, erwiderte er mit einem Nicken. »Waren Sie schon einmal bei einem Treffen?«
»Nein, ich bin zum ersten Mal da.«
»Heute soll Jahanara Imam kommen.«
Maya riß die Augen auf. »Wirklich?«
Jahanara Imam hatte ein Buch darüber geschrieben, daß sie ihren Sohn im Krieg verloren hatte. Jeder hatte es gelesen; sie wurde Shahid Janani genannt, die Mutter der Märtyrer. Ein Glück, daß Joy sie mitgenommen hatte. Vielleicht konnte Maya sogar einen Artikel darüber schreiben.
Sie machte es sich bequem und zog ein Notizbuch heraus. Schon bald füllte sich der Raum; als keine Stühle mehr übrig waren, lehnten die Leute an der Wand, andere hockten auf dem Boden. »Da ist sie.« Der Soldat zeigte auf eine ältere Frau, die sich gerade hingesetzt hatte.
Mohona eröffnete die Versammlung. Sie hieß alle Anwesenden willkommen, auch, mit einem Kopfnicken in Mayas Richtung, alle, die zum ersten Mal dabei waren. Joy fand noch einenPlatz in der Reihe hinter Maya und tippte ihr auf die Schulter. »Was habe ich dir gesagt?«
Jahanara Imam erhob sich. Die winzige Frau in dem weißen Baumwollsari sah so gebrechlich wie flüchtiger Schaum aus. Aber ihre Stimme war kräftig und ihre Worte direkt. »Dreizehn Jahre sind nun vergangen«, hob sie an, »doch ich weiß, daß Sie nichts vergessen haben, genausowenig wie ich. Dreizehn Jahre sind vergangen, und unser Krieg ist nicht vorbei. Unsere Freiheit haben wir vielleicht errungen, vielleicht brauchen wir den Kopf nicht mehr zu beugen, und wir können sagen, daß wir ein Land haben, unser Land. Doch was ist das für ein Land, das die Männer davonkommen läßt, die es verraten haben, die Männer, die gemordet haben! Es läßt sie frei herumlaufen und als Nachbarn der Frauen leben, die sie zu Witwen gemacht haben, der jungen Mädchen, die sie vergewaltigt haben.«
Sie erzählte die Geschichte von Ghulam Azam, dessen Schlägertrupp mit der pakistanischen Armee kollaboriert, sie zu Guerillaverstecken geführt und beim Niederbrennen von Dörfern mitgewirkt hatte. Ghulam Azam war nicht nur freigesprochen worden, sondern sollte jetzt auch noch die bengalische Staatsangehörigkeit erhalten.
Es war immer Mayas Stolz gewesen, nicht zu vergessen, wer sie vor Kriegsausbruch gewesen war. Sie wußte noch haargenau, welche politischen Überzeugungen sie gehabt und was sie sich geschworen hatte. Für welches Land sie gekämpft hatte. Sie wußte noch genau, wie die toten Männer mit den auf dem Rücken gefesselten Händen und den in Blut getauchten Gesichtern ausgesehen hatten, und sie würde keinen einzigen Tag vergessen, an dem sie im Flüchtlingslager mit nichts als einem Löffel und einem Jagdmesser ausgerüstet Männern Kugeln aus dem Leib geholt hatte.
Sie hatte nichts von dem vergessen, wofür sie
Weitere Kostenlose Bücher