Mein fremder Bruder
gestern mit Hadschi Mudassar besprochen.«
Wer Hadschi Mudassar war, wußte Maya. Die Leute von oben wandten sich mit allen Fragen an ihn, auch wenn die Angelegenheit noch so unbedeutend war. Sie neigten vor ihm den Kopf und ließen sich von ihm segnen. Sie taten alles, was er sagte.
»Hadschi Mudassar hat uns gesagt, daß es unsere Pflicht ist, für die ordnungsgemäße Erziehung des Jungen zu sorgen. Wir wissen, daß wir in dieser Hinsicht versagt haben.«
Khadija streckte die großen, kräftigen Hände aus und umfaßte Mayas Handgelenk. »Wir haben beschlossen, uns von nun an zu bessern. Amra neyot korechi.« Sie hatten unter dem wachsamen Auge des Allmächtigen ein Versprechen abgelegt.
Mehr schien Khadija nicht sagen zu wollen. Maya gestattete sich ein kleines bißchen Hoffnung.
»Bleibst du noch? Das Maghrib-Gebet fängt in ein paar Minuten an.«
»Es tut mir leid, ich muß zurück zu Ammu.«
»Wir beten jeden Tag für sie. Der Huzur ist ein treuer Sohn.«
»Danke«, sagte Maya, plötzlich von dieser Aussage bewegt.
»Vertraue auf Gott, Schwester Maya«, sagte Khadija. »Der Junge wird versorgt werden, und deiner Mutter geht es bald besser.« Khadija hielt ihr Handgelenk weiter ganz fest. Maya hatte eine Vorahnung und sah auf einmal vor sich, daß Khadija ihre beste Freundin werden würde, die Schwester im Geiste, die sie sich immer gewünscht hatte. Khadija legte Maya die Hand auf die Stirn, was diese als Zeichen auffaßte, daß sie gehen mußte.
Die Stirn noch heiß von Khadijas Hand, ging Maya, überrascht, wie ungern sie sie verließ, zurück nach unten.
Vier Tage später stattete Maya dem Dach ohne Einladung einen Besuch ab. Sie hatte ihre Mutter gerade mit einigen Löffeln Brühe gefüttert, nach der Wundnaht geschaut und ihr beim Einschlafen zugesehen. Die Frauen saßen in langen Reihen entlang der Wand, die Köpfe über Teller gebeugt. Rokeya ging an den Reihen vorbei und schöpfte Reis auf die Teller. »Bitte, Maya Apa«, sagte sie, »bitte, iß mit uns.« Khadija nickte ihr ebenfalls lächelnd zu. Es gefiel Maya, daß sie nicht überrascht waren, sie zu sehen. Eine neue Jamaat aus Südafrika war eingetroffen. Schwarze und weiße Frauen ließen die Gebetsketten durch die Finger gleiten und beteiligten sich am Gebet. Als die Fürbitte begann, füllten sich Mayas Augen mit Tränen.
Sie ließ sich in Khadijas Arme sinken. »Wird Ammu denn wieder gesund?«
Khadija strich ihr leicht und zärtlich über den Kopf. »Natürlich, wenn Gott will, bleibt sie bei uns.« Maya machte sich innerlich darauf gefaßt, daß Khadija ihr gleich beibringen würde, wie wichtig es war, den Tod als Gottes Willen zu akzeptieren. Doch Khadija schwieg und bewegte die Hand zu Mayas Stirn, wo sie wie ein heilender Umschlag liegenblieb, bis Maya die Augen schloß und anfing, ihr zu glauben.
1973
März
Als Piya verschwunden war und Sohail immer mehr Zeit auf dem Dach mit seinem Buch verbrachte, erhielt er eine Einladung von Sheikh Mujib. Der Vater der Nation war jetzt Premierminister, und er wollte die Gesichter der jungen Männer sehen, die das Land befreit hatten. Maya war begeistert. Sie stellte sich vor, daß der Anblick des ihm freundlich zugewandten großen Mannes Sohail dazu bewegen würde, endlich wieder zu seinem alten Leben zurückzukehren. Als die Einladung kam, war sie an alle drei gerichtet – Sohail, Rehana und Maya.
Am Morgen ihrer Einladung erschien Sohail in einer Kurta-Pyjama und einem ärmellosen Mujib-Mantel mit Stehkragen. Es war ein heißer Tag, viel zu heiß für einen Mantel, aber er ließ sich nicht überreden, ihn auszuziehen, nicht einmal beim Essen. Er fächelte sich mit einem Bangladesh Observer Luft zu. Dann trank er drei Gläser Milch. Maya versuchte den ganzen Morgen über, sich zu entscheiden, was sie anziehen sollte. Sie übte vor dem Badezimmerspiegel ein, wie sie Bangabandhu begrüßen würde, und setzte ihr strahlendstes, dankbarstes Lächeln auf.
Auch Rehana war aufgeregt. Sie sah in dem weißen Baumwollsari mit den schmalen Silberarmreifen hervorragend aus, wenn auch ein wenig streng. Ihren Kindern setzte sie verbrannten Toast vor, den Sohail vertilgte, ohne das Abgebrannte abzukratzen. Dann verschwand sie im Schlafzimmer und schloß sich ein. Maya klopfte ein paarmal bei ihr an die Tür – sie würden zu spät kommen – und ging dann hinten herum durch die Küche zu ihr ins Zimmer. Ammu saß an der Spiegelkommode und schrieb irgend etwas, wobei sie den Kopf so dicht über
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