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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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Landes bereiste, geriet ich in das Land der Bergvölker, der Garo und Chakma. HabenSie sich jemals gefragt, ob Sie schon mal einen Angehörigen dieser Minderheiten kennengelernt haben? Neben einem in der Schule gesessen haben? Schon mal jemanden gekannt haben, der einen Garo oder Chakma zum Freund hat? Nein? Dachte ich mir.
    Die Naturvölker wissen, wie man Medizin im Wald findet. Pflanzen, die eingeweicht und auf eine Wunde gedrückt werden. Sie kauen Blätter und schmieren die Paste auf die Verletzung. Jedes kleine Fleckchen des Landes, sagen sie, birgt einen Schatz.
    Zum Ausgleich dafür brennen wir ihre Dörfer nieder und lassen zu, daß die Soldaten die Frauen vergewaltigen. Wir nehmen uns ihre Wälder und vertreiben sie aus ihren Hütten. So etwas verdient die Bezeichnung Freiheit nicht.

    *

    Ammu wurde jeden Tag schwächer. Die Verschlechterung ihres Zustands ging fast unmerklich vor sich, aber manchmal fiel Maya doch auf, wie eckig ihre Kieferknochen wirkten, wie erschreckend schmal ihr Profil geworden war. Sie versuchte, auch andere Dinge zu überwachen – wieviel sie aß, ihre Verdauung, die durch die Chemotherapie ausgelöste Übelkeit. Doch Ammu hielt all das so geheim wie möglich, weigerte sich, offen über ihre Krankheit zu sprechen, und zog Sufias Hilfe immer der ihren vor. Sie legte so viel Wert auf die Verschleierung der Einzelheiten ihrer Krebserkrankung, daß Maya sich manchmal fragte, ob ihre Mutter sie überhaupt dahaben wollte.
    Dabei konnte Maya sich auch nicht vorstellen, irgendwo anders zu sein. Ihr früherer Aufenthalt an anderen Orten hatte sich aufgelöst wie Zucker in Wasser, ohne Spuren zu hinterlassen. Sie dachte kaum noch an Nazia und ob sie wohl noch einmal anrufen würde. In Rajshahi war die Mangosaison gekommen und wieder vergangen, und sie hätte vielleicht kurz bei der Erinnerung an die Duftströme verweilen können, die ins Dorf geweht kamen und allen das Wasser im Munde zusammenlaufen ließen, aber das tat sie nicht. Sie dachte nur an Ammu, an nichtsals an die Vertreibung der bösen Vorahnung. Oben war sie eine regelmäßige Besucherin geworden; sie saß an den Rändern dieser seltsamen Welt, fasziniert von den Ritualen, der Ruhe und Gewißheit, die die Frauen zu umgeben schienen. Einmal fragte sie Rokeya nach ihrer Meinung zur Ermordung von Präsident Zia, und Rokeya sah sie an, als wisse sie nicht, von welchem Zia sie spreche. Wahrscheinlich fragte sie sich, ob es einen Zia im Koran oder in ihrer Großfamilie gab. Maya brachte nicht ihre üblichen Tiraden vor, daß die Bürger ihre Freiheit, für die sie so hart gekämpft hatten, gar nicht verdienten, wenn sie nicht einmal wußten, wer ihr ehemaliges Staatsoberhaupt war. Daß sie die korrupten Politiker verdienten und daß es Leute wie Rokeya waren, die das Land in die schlimme Lage gebracht hatten, in dem es sich jetzt befand. Doch statt des gewohnten Wutanfalls – verspürte sie Erleichterung. Sie war es leid, daß ihr alles ständig das Herz brach, die Politiker und die ganzen Betrüger und die Frauen, deren Ungeborene starben, weil sie es nicht rechtzeitig ins Krankenhaus schafften. Hier auf dem Dach existierte eine Welt, in der es keine Rolle spielte, daß zwei ihrer Regierungschefs ermordet worden waren und der Zynismus mittlerweile vollends gesiegt hatte, da Bangladesch seinen eigenen Diktator hatte, seine eigene schreiende Ungerechtigkeit, seinen eigenen schmutzigen kleinen Krieg im Süden. Es gab nur diesen Saal, diesen heißen Raum mit seinem Gestank nach Männern und Frauen, und das Gefühl, daß sie, Maya, mit ganzer Kraft am Ende eines Stricks zog und ihre auf den Tod zutaumelnde Mutter zurückzuholen versuchte.
    Zaid vergab Maya den Vorfall auf dem Markt und ging wieder wie üblich bei ihr ein und aus. Wie zuvor gab sie ihm zu essen und versuchte, ihm etwas beizubringen. Nur Dinge, die halal waren, kein Kartenspiel, kein Fernsehen. Sie nahm Addieren und Subtrahieren mit ihm durch. Seine zappelige Energie war die einzige Aufmunterung im Bungalow. Er schlich sich auf Zehenspitzen zu Rehana ans Bett und saß ihr, einen pragmatischen Optimismus ausstrahlend, zu Füßen, auch wenn seineGroßmutter immer tiefer in der Matratze versank. Sie wirkte so zerbrechlich wie ein Vogeljunges im Nest, wie ein zitterndes Rotkehlchen mit blutroter Brust.

1973
Juli
    Selbst als Sohail sich bereits zu seiner Liebe zum heiligen Buch bekannt hatte, als er mit dem regelmäßigen Besuch der Moschee begonnen hatte und immer ein

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