Mein fremder Bruder
Gebetskäppchen auf dem Kopf trug, glaubte Maya, sie könnte ihren Bruder umstimmen. Sie kannte ihn ihr Leben lang, und er war immer das Gegenteil eines gläubigen Muslims gewesen. Er hatte Witze über den Glauben gerissen, er war voller Wut auf eine Religion gewesen, die sich so leicht in Grausamkeit verwandeln konnte. Er hatte es mit eigenen Augen gesehen: Die Jungen, die allein ihres hinduistischen Glaubens wegen abgeschlachtet worden waren, die Universitätsprofessoren, die erschossen und in Massengräbern verscharrt worden waren, weil sie nicht »islamisch« genug waren. All das überzeugte Maya davon, daß seine Bekehrung etwas Vorübergehendes sei, wie der Tau, der sich bei Tagesanbruch auf dem Gras sammelt und verschwunden ist, wenn die Sonne am Abend untergeht.
Sie beschloß, eine Geburtstagsfeier für ihn zu veranstalten. All die Freunde von früher sollten kommen – Chottu, Saima, Iqbal, die Kameraden aus seinem Regiment, ihre gemeinsamen Freunde von der Uni. Kommilitonen, die Sohails Reden als Studentenvertreter gehört hatten, die ihn zum Präsidenten gewählt und seinen Namen geschrieen hatten.
An seinem Geburtstag schlug Maya Ammus Warnung in den Wind und verriet Sohail nichts von der Party, außer daß er am Nachmittag zu Hause sein sollte. Es war immerhin sein Ehrentag. Maya arbeitete hart, baute das Carrombrett auf der Terrasse auf, preßte Zitronen dutzendweise aus und briet Linsen für einen Riesentopf Khichuri.
Der Tag war heiß und sonnig, keinerlei Anzeichen dafür, daß der Monsun ihnen einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Chottu und Saima kamen als erstes, mit ihrem Säugling auf dem Arm, für den sie eine Katha in den Farben der Bangladesch-Fahne genäht hatten. »Habt ihr schon einen Namen?« fragte Maya, obwohl sie wußte, daß Chottus Mutter abergläubisch war und verboten hatte, der Kleinen vor dem Aqiqafest, bei dem sie im Alter von drei Monaten getauft werden würde, einen Namen zu geben.
»Nein«, antwortete Saima, »der alte Drachen hat es uns immer noch nicht erlaubt.«
Chottu sagte: »Ich erzähl der kleinen Pupserin ständig, wie glücklich sie sich schätzen kann, daß sie in einem freien Land auf die Welt gekommen ist, aber sie interessiert sich nur für die Mutterbrust.«
Mehrere junge Männer in Uniform aus Sohails Regiment kamen hereingeschlendert. Kona, dessen breite Schultern die Uniform immer besonders ansehnlich ausgefüllt hatten, grüßte sie zackig. »Hallo, kleine Schwester«, sagte er. »Nicht mehr so klein, wie ich sehe.«
Der Garten begann sich zu füllen. Maya ließ die selbstgemachte Limonade herumgehen, während die Leute sich auf die schattigen Fleckchen des Gartens verteilten, sich an den Guavenbaum lehnten oder auf der Terrasse herumstanden. Eine große Gruppe von Mayas Medizin-Kommilitonen traf ein, dann ein Trio von Mädchen, die sich immer besonders interessiert an Sohail gezeigt hatten. An der Uni waren sie als die flotten Bienen verschrieen, die schulterfreie Blusen trugen und die Lippen stets zu einem perfekten, die Zähne bedeckenden Stewardessenlächeln verzogen hatten. Alles stimmte, alles war da, Lachen und Limonade und hübsche Mädchen – das einzige, was fehlte, war Sohail. Maya sah auf die Uhr: Drei Uhr, und er war immer noch nicht zurück. Ein Anflug von Panik befiel sie. Womöglich würde er gar nicht erscheinen. Wahrscheinlich war er, angewidert von der ganzen Sache, in der Moschee, und was sollte sie dann tun,was sollte sie den ganzen Leuten sagen, die Erdnüsse knabberten und sich Geschichten über ihren Bruder erzählten?
Sie begrüßte die Medizinstudenten und zog ihnen Stühle heran, damit sie im Kreis zusammensitzen konnten. In diesem Augenblick bemerkte Maya Ammu in einem gestärkten weißen Sari, wie sie alle lächelnd begrüßte, beim Namen nannte und kleine Schalen mit Puffreis verteilte. Die jungen Männer stellten sich aufrecht hin und legten die Hände vor der Stirn aneinander oder bückten sich, um ihre Füße zu berühren. Wo Rehana war, wurde das Gespräch sofort lebendiger, die Atmosphäre entspannter, und auch wenn hin und wieder der Ruf nach dem Geburtstagskind ertönte, schien niemand Sohails Abwesenheit zu stören.
Maya beschloß, nicht länger zu warten, sondern das Essen zu servieren. Sie schnippelte die Gurken für den Salat und wärmte das Khichuri wieder auf, türmte es auf große Servierteller und bat die Gäste ins Wohnzimmer. Gerade, als sie das Eier-Curry auftragen wollte, sah sie Sohail
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