Mein fremder Bruder
Khadija. Sie drehte sich wieder zu Rokeya um. »Sag den Schwestern, daß sie alles vorbereiten sollen.«
Im Saal stand die Luft. Die Fenster waren geschlossen und die Vorhänge zugezogen, so daß es unerträglich heiß war. Khadija wirkte als einzige so, als mache die Hitze ihr nichts aus. Ihre Stirn glänzte vom Schweiß wie poliert, als sie vorn im RaumPlatz nahm. Sie schlug das heilige Buch auf und fing an, leise für sich zu lesen. Die anderen Frauen, die geflüstert und sich Luft zugefächelt hatten, setzten sich aufrecht hin und ermahnten einander zur Ruhe. Rokeya winkte Maya neben sich.
Die Sonne stand hoch am Himmel, und Maya starrte auf ihre Hände, während der Schweiß unaufhörlich an ihr herunterfloß. Hier, dieser Raum, war der einzige Ort, an dem sie glauben konnte, daß ihre Mutter überleben würde. Überall sonst hatte die Möglichkeit ihres Todes bereits die Oberhand gewonnen: Jede Mahlzeit, die nicht von Rehana gekocht worden war, die leeren Zimmer, der Garten, den Maya so gewissenhaft wässerte und dennoch nicht vor dem Gelbwerden bewahren konnte.
Und deswegen saß Maya jeden Tag wieder Khadija zu Füßen. Sie las nicht im Koran und betete auch nicht mit. Sie saß einfach nur im Schneidersitz da, die Hände im Schoß, während ihr die Beine allmählich einschliefen, bis die Panik endlich ein wenig nachließ.
Als Rehana die meisten Haare schon verloren hatte, bat sie Maya schließlich, den Rest auch noch abzuschneiden. Sie setzte sich im Bett auf, die Schulterblätter ragten spitz unter dem Nachthemd hervor, die Haut an ihrem Hals war grau und müde. Sufia stand leise weinend dabei, als Maya ihrer Mutter ein Handtuch um die Schultern legte.
Sie hatte gewußt, daß dieser Tag kommen würde, sie hatte sich innerlich darauf vorbereitet. Sie würde gelassen und ihre Hand würde ruhig bleiben. Zuerst kam die Schere. Die Haare waren Ammu nicht gleichmäßig ausgegangen; an manchen Stellen waren sie schon ganz verschwunden, an anderen saßen sie noch dicht und fest auf der Kopfhaut. An diesen Stellen schnitt sie das Haar ganz kurz, fühlte das Gewicht der langen, dicken Strähnen in der Hand, bevor sie sie zu Boden fallen ließ. Sufia folgte ihren Bewegungen mit dem Kehrbesen. Rehana selbst war gefaßt und hatte die Zeitung aufgeschlagen, als sei es ein Morgen wie jeder andere und als warte sie nur darauf, daß ihrdie Frühstückseier serviert würden. Auch sie hatte sich offensichtlich auf diesen Tag vorbereitet.
Nach der Schere nahm Maya ein Rasiermesser, tauchte es in eine Schale mit warmem Seifenwasser und strich damit leicht und behutsam über den Kopf ihrer Mutter. Jetzt kam ein glänzender, perfekt runder Ammuschädel unter ihren Händen zum Vorschein. Ein ganzer Planet.
»Ich weiß noch, daß ich meinem Vater oft zugesehen habe«, erzählte Rehana und hielt die Zeitung hoch, »wie er von seinem Barbier rasiert wurde. Er wirkte immer sehr entspannt.«
»Wie fühlt es sich an?«
»Schön. Kitzelt ein bißchen.«
Bald war nur noch ein wenig Seifenschaum übrig. Maya rieb ihrer Mutter den Kopf mit einem dünnen Handtuch ab. »Ich habe etwas für dich«, sagte sie. Sie ging in ihr Zimmer und kam mit einem bunten Kopftuch zurück, das sie ein paar Tage zuvor bei einem Straßenhändler erstanden hatte. Es war rot mit einem weißen Muster und ließ sich hervorragend um die Stirn ihrer Mutter knüpfen.
»Jetzt siehst du wie eine Zigeunerin aus«, sagte Maya. »Oder ein Pirat.«
»Her mit der Augenklappe, dann raube ich dich aus.« Sie lachten.
Am Abend kamen Mrs. Rahman und Mrs. Akram, um mit Rehana Karten zu spielen. Maya ließ sich überreden, als vierte mitzuspielen, damit sie pokern konnten. Niemand verlor ein Wort über Rehanas Haare, außer der Bemerkung, Rot müsse ihre Glücksfarbe sein, weil sie zweimal gewann, mit einem Paar Asse und einem Straightflush.
*
Als der Fastenmonat Ramadan anfing, beharrte Rehana darauf, daß Maya alle Einkäufe zur Vorbereitung auf das Opferfest machen solle. »Es ist das erste Mal, daß ich die Fastenzeit nichteinhalten kann«, sagte Rehana, deren Kopf leicht auf dem Kissen ruhte. »Dann kannst wenigstens du zum Id was Hübsches anziehen.«
Ammu hatte ihr ganz genaue Anweisungen mitgegeben. Wie viele Meter Stoff für ihren Salwar Kamiz zu kaufen waren. Für Sufia Bluse, Unterrock und Sari. Geschenke für Mrs. Rahman und Mrs. Akram. Etwas für Sohail. Jetzt standen Maya und Zaid in einem Stoffladen und versuchten, das richtige Material für Sufias
Weitere Kostenlose Bücher