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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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ihnen, verzieht keine Miene, nimmt ihm den Schlüssel vom Hals, untersucht die Kiste und wirft das süße Moori weg. Er nickt seinem Vater zu, ja, er wird im Wegdes Din unterrichtet werden, es wird keine Versuchungen des modernen Lebens geben, und währenddessen sieht Zaid den blaßgrünen Eidechsen zu, die herumhuschen und sich begatten und ihre Schwänze verlieren, sieht den Stock, der auf dem niedrigen Tisch des Huzur liegt. Sein Vater predigt, und seine Knie fangen an zu schmerzen, während die Predigt seines Vaters immer weitergeht, weswegen er erleichtert ist, als er aufstehen darf, und als ihm eine Decke und ein Teller ausgehändigt werden, träumt er davon, was er zu essen bekommen wird. Und als er den Hof überquert, fragt er sich, ob er jetzt die anderen Schüler kennenlernt, dann geht eine Tür auf, und es gibt einen anderen Schlüssel, und die Stimme seines Vaters sagt As-salamu ‘alaikum, und das Gesicht des Huzur verschwindet, und die Tür geht zu.
    Er ist allein mit der Decke und dem Teller, dem grauen Licht aus einem Schlitz zwischen dem Strohdach und der Wand, dem Kratzen von Ratten, und als der Schlüssel umgedreht wird, wirft er sich gegen die Tür und ruft den Schritten hinterher, die immer leiser werden, bis nichts mehr da ist außer seiner eigenen Stimme, die um Freilassung fleht, und seine Fäuste an der Wand und jeder Schrei ein Echo des nächsten: Abbu, Abbu, Abbu. In diesem Augenblick hat er mehr Angst vor dem, was in diesem Raum ist, der Einsamkeit und den Ratten und den Lichtstreifen an der Wand, als vor dem, was jenseits davon ist. Zu Unrecht.

1974
Januar
    Vieles hatte Sohail dazu bewogen, auf dem Dach zu predigen – Piya, der Krieg, das enttäuschend Normale der Freiheit –, doch Maya war immer der Überzeugung gewesen, daß es Silvi war, seine erste und größte Liebe, die seinem alten Ich ein für allemal den Garaus gemacht hatte.
    Silvi wohnte nach wie vor auf der anderen Straßenseite. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie angefangen, den Kopf zu verhüllen, und wenn sie jetzt das Haus verließ, was nur noch selten vorkam, dann nur im schwarzen Niqab, der außer ihren Augen alles verdeckte. Ihre Mutter, Mrs. Chowdhury, früher Rehanas engste Freundin, hatte Gerüchten zufolge einen wahnhaften Waschzwang entwickelt und verbrachte Stunden im Bad, wo sie sich die Hände schrubbte, bis sie sich schälten und bluteten. Immer mehr Zimmer des großen, zweistöckigen Hauses wurden verschlossen, und Mrs. Chowdhury bewohnte schließlich nur noch ein Schlafzimmer und Silvi ein anderes.
    Die anderen Nachbarn hatten sie abgeschrieben, aber Maya war überzeugt, daß Silvi nur auf den richtigen Moment lauerte, um ihren Bruder weiter den Weg des Glaubens entlangzutreiben. Silvi hatte ebenfalls ihren Bund mit dem Allmächtigen geschlossen und beobachtete Sohail von der anderen Straßenseite aus. Der hatte zwar nie etwas Derartiges eingestanden, aber Maya wußte genau, daß er sich insgeheim nach Silvi sehnte und dieses Verlangen in sich auslöschen wollte, damit er seine Pflicht erfüllen konnte – derentwegen er seiner Überzeugung nach den Krieg überlebt hatte.
    Maya sollte recht behalten. Monatelang blieb Silvi auf ihrem Beobachtungsposten, während immer mehr Leute kamen, umSohail sprechen zu hören. Sie sah die Männer und Frauen in Reihen nebeneinander sitzen. Die Worte konnte sie nicht verstehen, aber von ihrem Dach sah sie sein Dach und die sich im Rhythmus seiner Stimme wiegenden Körper.
    Und während Silvi Sohail beobachtete, beobachtete Maya Silvi. Sie sah, wie sich Silvis Vorhang teilte, sobald Sohail auftauchte. Sie sah ihren schwarzen Umriß, wenn sie die Wäsche auf dem Dach aufhängte, damit sie zu ihm und seinen Anhängern hinüberspähen konnte. Eines Abends, als die Predigt zu Ende und der Adhan erklungen war, sah Maya, wie Silvi das Hoftor öffnete und die Straße überquerte. Silvi winkte eine junge Frau, die die Versammlung verließ, zu sich. Die Frau sah nicht sehr strenggläubig aus – sie trug einen schlichten Salwar Kamiz und hatte noch nicht einmal den Kopf bedeckt. Maya stand hinterm Tor und belauschte die beiden.
    »Was geht in dem Haus da vor sich?« fragte Silvi.
    Die junge Frau lächelte. »Er ist sehr weise«, sagte sie. »Ein sehr demütiger und weiser Mann.« Und dabei sah sie Silvi schwärmerisch in die Augen, und Maya wußte, daß Silvi alles gehört hatte, was sie wissen wollte, weil Silvi sich natürlich noch an die hypnotische Kraft von Sohails Stimme

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