Mein fremder Bruder
erinnerte, so daß die Leute ihm alles glauben wollten, was er sagte, und an die unglaubliche Überzeugung, die er in jedes Wort legte, und wie ihm die Farbe ins Gesicht stieg und wie sanft er die Hand hob, als wolle er die Zuhörer streicheln, und wie ruhig alles andere an ihm blieb, an die Energie und Kraft seiner Stimme.
Was er denn genau predige, wollte Silvi wissen.
»Es läßt sich nicht erklären«, antwortete die Frau und wirkte immer verliebter, »es läßt sich einfach nicht erklären.«
Und die Frau ließ Silvi am Tor stehen und schritt voller Zuversicht davon, nahm ein Stück dieser klangvollen Stimme mit, ihr kleines Stückchen Wunder. Maya wollte Silvi auffordern wegzubleiben und ihr auf den Kopf zusagen, daß sie Sohails Herz schon einmal gebrochen habe und keinen Anspruch mehr auf ihn besitze. Doch bevor Maya etwas unternehmen konnte,stieg Silvi, erstaunlich gelenkig in ihrem weiten schwarzen Gewand, die Leiter hinauf. Was dort oben auf dem Dach geschah, erfuhr Maya nie. Sie stellte es sich so vor: Daß Silvi auf Sohail zutrat, der noch vom Gebet am Boden kniete, und zu ihm sagte: »Du kennst ja die Geschichte vom Sklaven Bilal. Er wurde von seinem Besitzer Umaya dafür bestraft, daß er Muslim geworden war. Er mußte mit einem schweren Stein auf der Brust in der Mittagshitze liegen. Und was schrie er hinauf zur Sonne, die gnadenlos auf ihn herabbrannte?«
»Einer«, antwortete Sohail, »Einer.«
Und so versetzte sie ihm den entscheidenden Schlag. »Einer«, sagte sie. »Es kann nur Einen geben.«
Sohail und Silvi heirateten im folgenden März. Aus Mitleid mit ihrer Mutter, die unbedingt glauben wollte, daß es so am besten sei, nahm Maya teil. Ammu fragte Sohail, ob Silvi nicht vielleicht diesmal eine richtige Braut werden wolle, da ihre erste Ehe so überstürzt vollzogen worden war. Vielleicht wollte sie sich die Haare schön frisieren oder sogar Hände und Füße mit Henna bemalen lassen? Aber Sohail sagte, Silvi wolle nichts davon wissen. Schlicht, sagten beide. Keine Feier.
Rehana ließ also statt dessen Karten drucken und verschickte sie mit kleinen Schachteln voller Süßigkeiten an alle Bekannten. Laddus mit kandierten Orangenstückchen und Pranharas, das »Herzensbrecher« genannte Konfekt.
Mrs. Rehana Haque freut sich
die Eheschließung ihres Sohnes
Muhammad Sohail Haque
mit
Rehnuma Chowdhury (Silvi)
Tochter des verst. Mr. Kamran Chowdhury
und Mrs. Aziza Chowdhury
bekanntzugeben.
Gott segne das glückliche Paar.
Und so überquerte Familie Haque an einem Freitagmorgen im März die Straße, in der Hand neue Kleider und ein Paar kleine Goldohrringe für Silvi. Mehr Schmuck konnte Rehana sich nicht leisten. Maya machte sich in bester Absicht fertig, weil sie sich sagte, daß man sowieso nichts tun konnte, und sie ihren Frieden mit den beiden machen wollte, bevor es zu spät war. Doch auf halbem Weg zwischen ihrem Bungalow und dem langsam verfallenden Herrenhaus gegenüber erfaßte sie urplötzlich ein Haß auf Silvi. Wie freudlos der ganze Vorgang war. Daß Sohail zu der Frau zurückkroch, die ihm vorher eine Abfuhr erteilt hatte und die ihn nur wiederhaben wollte, weil seine Ängste sich auf einmal mit den ihren deckten.
Silvi zog die neuen Kleider an, die sie mitgebracht hatten. Die Ohrringe waren unter dem eng geschnürten Kopftuch nicht zu sehen. Sohail saß allein in Mrs. Chowdhurys Salon, während die anderen sich in Silvis Schlafzimmer drängelten. Silvi hatte den Kopf gesenkt und versteckte sich mit eingezogenen Schultern in ihrem Sari. Als ihr der Ehevertrag vorgelegt wurde, unterzeichnete sie ihn schnell mit sicherer Hand.
Es erstaunte Maya wieder einmal, wie klein ihre Welt geblieben war. Keine Schwärme von Verwandten waren da, kein Onkel und keine Großeltern. Das war immer so gewesen: Das Id hatten sie mit Ammu und ihren Freundinnen aus dem Ladies Club begangen; die Geburtstage wurden kaum gefeiert, nur ein paar Nachbarn schauten vorbei. Und doch konnte Maya sich nicht daran erinnern, sich je einsam gefühlt oder Angst gehabt zu haben, sie könnten auf ihrer kleinen Insel ausgesetzt sein, während alle anderen von einem riesigen Verwandtenkreis beschützt wurden. Für Ammu mußte es schwierig gewesen sein, da alle Verantwortung für ihre kleine, dreiköpfige Familie auf ihr gelastet hatte. Vielleicht war das der Grund gewesen, warum Maya und Sohail, und später auch Ammu, sich so sehr mit der Untergrundbewegung identifiziert hatten. Auf einmal hatte es keine
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