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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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zurückholen kann. Er vermißt Maya. Er sieht sich im Zimmer um, ob jemand versucht, einen Blick mit ihm zu wechseln, aber niemand schaut ihn an. Sie sitzen alle im selben Boot, werden alle von denselben Wellen hin- und hergeworfen.
    Später versucht er einzuschlafen, nachdem er die Geräusche im Zimmer gezählt hat, die Ratten, das Schnarchen, das Rascheln der Moskitonetze, die unter den Schlafmatten festgesteckt werden. Sein Vater hat vergessen, ihm ein Moskitonetz mitzugeben. Der Huzur hat die anderen Jungen aufgefordert, ihr Netz mit über seine Matte zu spannen, aber niemand tut es. Er zählt, wie oft eine Stechmücke in der Nähe seines Ohrs landet; deren Sirren ist lauter als alles, was er den ganzen Tag gehört hat. Sogar lauter als das Gebrüll, das der Huzur ausgestoßen hat, als er herausfand, daß der Junge das arabische Alphabet nicht kennt. Was kommt nach Alif, Ba, Ta, Tha? Was kommt nach dem Buchstaben, der wie ein Spazierstock aussieht? Er weiß es nicht. Der Huzur gibt ihm drei Schläge auf die Handfläche. Eins, zwei, drei. Die Stechmücke ist lauter als der Schlag und sirrt hektisch an seinem Ohr.
    In der Gesellschaft von Mückensirren schläft er ein.

1984
November
    Joy lehnte lässig an seinem Auto. Maya hatte es hupen gehört, war nach draußen gegangen, um zu sehen, wer es war, und sah ihn lächelnd dastehen, die Hände in den Hosentaschen.
    »Wir haben uns seit Wochen nicht mehr gesehen«, sagte er.
    »Tut mir leid, daß ich mich nicht gemeldet habe – ich bin so beschäftigt mit Ammu.« Sie dachte an ihr letztes Zusammentreffen, mit Zaid und dem Kartentrick. Der Junge hatte ihr hinterher nicht verraten wollen, was er Joy ins Ohr geflüstert hatte. Seitdem hatte sie das Haus kaum noch verlassen; als sie jetzt an sich herabsah und ihren wenig kleidsamen Baumwoll-Salwar- Kamiz betrachtete, vermutete sie, daß Joy seinen Besuch bereits bereute. Für Maya gab es momentan kaum etwas anderes als die Krankheit ihrer Mutter. Sie transportierte sie zum Krankenhaus, sie beaufsichtigte die Chemotherapiebehandlungen, sie ging zu ihrem deutschen Mieter und bat um einen Vorschuß auf die Miete, damit sie die Arztrechnungen bezahlen konnte. Und mit dem bißchen Kraft, das ihr dann noch blieb, zerbrach sie sich den Kopf über Zaid. Manchmal dachte sie fast, daß Sohail gut daran getan hatte, ihn wegzuschicken. Er war immerhin der Vater des Kindes, das alles andere als brav war. Vielleicht würde ihm die Disziplin ja guttun, und eine Schule war es ja in gewisser Hinsicht auch – und der Junge hatte sich immer gewünscht, zur Schule zu gehen. Dann wieder erfüllte sie kalter Zorn; sie lag nachts wach und schrie innerlich Sohail an. Doch meistens hatte sie einfach Sehnsucht nach dem Kleinen; oft wandte sie sich um, weil sie ihm etwas erzählen wollte, und erst dann fiel ihr wieder ein, daß es noch Wochen oder Monate dauern würde, bevor sie ihn wiedersah. Sie versuchte aus Khadija herauszubekommen,wo genau er sich aufhielt, aber keine der Frauen von oben wollte es ihr verraten.
    »Um ganz genau zu sein, habe ich eine Verabredung«, sagte Joy.
    Flirtete er mit ihr? »Mit wem?«
    »Keine richtige Verabredung – ich habe nur gehört, er sei nachmittags zu sprechen. Nach fünfzehn Uhr.«
    Deswegen war er also da. Sie wehrte sich gegen die aufkommende Enttäuschung. Sie dachte an den Abend am Shahid Minar, als er geweint hatte und barfuß gegangen war – es schien so lange her zu sein. Er wirkte verändert. Die Jahre in Amerika waren von ihm abgefallen, und er war wieder ganz selbstverständlich und ungehemmt Bengale – wie er seinen Toyotaschlüssel in der linken Hand hielt, den Schlüsselring um den Finger kreisen ließ, mit dem lässigen Dreitagebart.
    »Tja, wenn er dir eine Audienz gegeben hat, dann komm lieber nicht zu spät.«
    »Vielleicht könntest du ja hochgehen und Bescheid sagen, daß ich komme«, entgegnete er. »Ich weiß nicht so genau, wie man sich da oben verhält.« Sie sah, daß er gern gefragt hätte, wie stark sich sein Freund nun wirklich verändert hatte, ob er in Jeans und kurzärmligem Hemd willkommen sein würde, mit bloßem Haupt und einem nach wie vor gegen alles Religiöse verbarrikadierten Hirn.

    Maya ging voran. Oben an der Treppe sah sie wieder Rokeya, die mit dem Gesicht zur Sonne dakniete, und bedeutete Joy stehenzubleiben. »Warte hier.«
    »Rokeya. Ich bin’s, Maya.« Rokeya hatte die Augen geschlossen. Maya tippte ihr auf die Schulter. Sie drehte den Kopf und öffnete

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