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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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Vater starb, die Hand auf das stillstehende Herz gedrückt, und etwas zum Maschinengewehrfeuer, das immer noch durch seine Erinnerungen hallte, jede Nacht aufs neue, und zu der Leere, die Piya hinterlassen hatte. Und jede Vorstellung, die er von der Welt gehabt hatte, auch dazu hatte es etwas zu sagen. Jeder Mensch war vor Gott gleich – wie dumm von ihm zu glauben, Marx hätte diese Idee erfunden, wo sie uralt war, sogar älter als uralt, im Keim allen Seins angelegt. Das war es, was Gott beabsichtigt hatte, was Gott geschaffen hatte. Er weinte vor Glück über soviel Schönheit.

1984
Oktober
    Maya hatte den Einkauf auf dem Neuen Markt schon wieder völlig vergessen, als Sohail ein paar Wochen später zur Tür hereinkam. Er war rot im Gesicht und atmete schwer. In der Hand hatte er einen kleinen Papierbeutel.
    »Wie geht es Ammu?« fragte er und ließ sich auf den Stuhl fallen.
    »Wie soll es ihr schon gehen? Sie hat Krebs.« So hart hatte sie es nicht sagen wollen, aber er war seit dem ersten Tag im Krankenhaus nicht mehr bei Ammu gewesen. Ammu fragte ständig nach ihm, und Maya mußte ihr immer sagen, er sei in irgendeiner wichtigen Jamaat-Angelegenheit unterwegs und habe liebe Grüße und Gottes Segen ausgerichtet. Von oben wurden Botschaften geschickt: Man habe den Koran dreimal von Anfang bis Ende für Rehana gelesen. Khadija hatte auch Essen heruntergeschickt, manchmal viel zuviel, das sie dann wegwerfen mußten, weil niemand da war, der es gegessen hätte.
    »Ich habe für sie gebetet«, sagte Sohail.
    »Ich weiß, das habe ich gehört.« Sie dachte an seine Predigt und wie er sie darin gerügt hatte.
    Er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Dann streckte er ihr die Papiertüte hin. Darin waren die Bata-Sandalen, blau und brandneu. Kalte Panik überkam sie. Sohail legte die Finger wie ein Zeltdach aneinander und sagte: »Ich möchte wissen, wie diese Sandalen in den Besitz meines Sohnes gelangt sind.« Maya bemerkte einen Ring an seinem linken Daumen, einen Silberring mit einem billigen grünen Stein. Den starrte sie an, während sie nach der besten Erklärung suchte – der Markt, der unverschämte Verkäufer.
    »Die habe ich ihm geschenkt. Seine alten Sandalen waren kaputt.«
    »Sie waren nicht kaputt. Ich habe sie selbst gesehen.«
    »Von mir aus, du hast recht, sie waren nicht kaputt. Aber sie waren zu klein.«
    »Du weißt, daß ich Bescheidenheit und Ehrlichkeit als die wichtigsten Tugenden betrachte.«
    »Er wollte –«
    »Natürlich wollte er. Er ist ein Kind.«
    »Ja, er ist ein Kind! Und du behandelst ihn nicht wie ein Kind.«
    Sohail durchbohrte sie mit seinem Blick. Verdammt, er wußte sofort, wenn sie nicht die Wahrheit sagte. »Hast du ihm diese Sandalen gekauft?«
    »Nein.«
    »Und wo hat er sie dann her?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Ich glaube dir nicht.«
    »Es war so, wir waren zusammen auf dem Neuen Markt, und ich wollte ihm ein Paar Sandalen kaufen, aber der Verkäufer hat ihn für einen Dienstboten gehalten.«
    Sohail reagierte nicht, sondern starrte sie nur weiter durchdringend an. »Hast du gehört, was ich gesagt habe? Einen Diener.«
    »Und warum ist dir so etwas wichtig?«
    Er schien tatsächlich erstaunt darüber zu sein. Warum war es ihr wichtig gewesen? »Weil er gedemütigt worden ist, deswegen. Dein Sohn wurde gedemütigt. Genau wie wenn er in zerrissenen Kleidern über die Straße läuft, oder den Kindern hinterherstarrt, die vom Spielplatz kommen, wenn die Schulglocke läutet.«
    »Wenn du ihm die Sandalen nicht gekauft hast, wer hat sie dann gekauft?«
    »Das weiß ich nicht. Vielleicht hat er sie sich von seinem Taschengeld gekauft.«
    »Du weißt haargenau, daß wir ihm kein Taschengeld geben.«
    Kein Spielzeug. Kein Taschengeld. Keine Sandalen. Rasseln in der Lunge. Schmutziger Grind an den Armen.
    »Ich muß etwas unternehmen«, sagte er und erhob sich schwerfällig vom Sofa.
    Vielleicht war das ja ein gutes Zeichen. Vielleicht wurde Sohail jetzt endlich klar, was er seinem Sohn antat. »Ja, bitte unternimm etwas.«
    Sohail zögerte. Dann seufzte er und sagte: »Ich schicke ihn auf die Madrasa.«
    » Was? «
    »Auf die Koranschule in Chandpur.«
    Sie merkte, wie ihre Stimme zu zittern anfing. »Wo zum Teufel ist Chandpur?«
    »Am anderen Ufer des Jamuna. Ich dachte, du kennst jede Ecke des Landes.« Diese kleine Stichelei konnte er sich nicht verkneifen.
    »Aber das ist mehrere Tagesreisen von hier weg!«
    »Ich habe gehört, der Huzur soll ein guter Mann

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