Mein fremder Bruder
Jungs?«
Ammu kam mit einem Kuchen herein. Er war weiß und quadratisch und mit blauen Blumen verziert. Alles Gute zum Geburtstag, Bhaiya .
»Na so was«, sagte Chottu, »wir wußten gar nicht, daß es eine Geburtstagsparty ist!«
Ammu zündete die Kerzen an. »Komm, Beta«, sagte sie, die Hand an Sohails Wange, »schneid den Kuchen an.«
Sie brachten ihm ein Ständchen. Sohail schnitt den Kuchen an und steckte Ammu ein Stückchen in den Mund. Normalerweise hätte er dasselbe auch bei Maya gemacht, aber sie lehnte außerhalb seiner Reichweite mit dem Rücken an der Wand. Sie sah, wie er sich ein Stück Kuchen in den Mund steckte, und wußte in diesem Augenblick, daß es das letzte Mal war, daß sie ihn so erleben würde: Daß er vorgeben würde, dem Mann zu ähneln, den sie von früher kannte, daß er lippenstiftroten Frauen erlauben würde, ihre Finger auf seinem Arm tanzen zu lassen, daß er den Whisky im Atem seines Freundes riechen und sich anschauen würde, wie alle betreten hin und her rutschten, als er von der Moschee sprach. Jetzt würde er wahrscheinlich die westliche Kleidung endgültig aufgeben und sich einen Bart wachsen lassen, und vielleicht würde er auf Pilgerfahrt nach Mekka gehen und Geschlechtertrennung praktizieren. Die Zukunft war auf einmal sonnenklar: Er ging irgendwohin, wo er weit weg und für sie unerreichbar war, und selbst wenn er nicht vollständig verschwinden würde, so würde sie doch von nun an zurückgelassen werden.
Später, als sie die Teller abgetrocknet und das restliche Khichuri aus dem Topf gekratzt hatten, drehte Maya sich zu Ammu um. »Ich hätte es nicht machen sollen.«
Ammu nickte nur und machte wortlos mit der Verteilung der Reste auf kleinere Behälter weiter, sie arbeitete mit angewinkelten Ellbogen, hob und löffelte.
»Hast du gesehen, wie er die Leute angeguckt hat? Als ob er von einem anderen Planeten käme.«
Sie wartete darauf, daß Ammu ihr sagte, sie solle sich nicht so aufregen, es sei nur eine Phase und werde vorübergehen. Doch statt dessen sagte sie: »Es ist ernster, als wir gedacht haben.«
»Hat er mit dir gesprochen?«
»Er will das Dach benutzen. Um zu reden.«
»Reden?«
»Über Religion zu reden. Er ist kein Mawlana, sagt er, und wir sollen ihn nicht so nennen. Er meint, er will einfach nur aufs Dach gehen und über Gott sprechen.«
»Aber mit wem denn?«
»Mit jedem, der ihm zuhören will. Sein Freund Kona hat sich schon angemeldet.«
Ammu faßte nach oben und drehte ihre Haare mit einer kräftigen Bewegung aus dem Handgelenk neu zum Knoten zusammen. Draußen hatte der Regen aufgehört, hing aber noch schwer in der Luft, hin und wieder waren vereinzelte Tropfen zu hören, die von den Blättern fielen.
»Aber es gibt ja nichts, was wir dagegen tun können, oder?«
Ammu bückte sich, um den leeren Kochtopf hochzuheben und nach draußen zum Wasserhahn zu tragen. Ihre Antwort klang sehr müde: »Nein, ich glaube nicht.«
»Na schön«, sagte Maya, »dann laß uns mal den Kuchen aufessen.« Sie setzte sich neben ihre Mutter auf einen Hocker und reichte ihr einen Teller mit der letzten Ecke des Geburtstagskuchens. Die schöne Verzierung war hinüber, und der Zuckerguß war zerlaufen und verschmiert.
Sohail zitierte aus der jüdischen Thora, der hinduistischen Bhagavadgita, der christlichen Bibel. Er pries die alten Propheten, Ram und Odysseus, Jesus und Arjun, Buddha und Guru Nanak. Alle waren auf ihre Weise Botschafter Gottes. Durch die Geschichte getrennt, unterschiedlich in ihrer Lehre, doch gleich in ihrem Streben nach Besserung des Menschen. Er sprach zu Leuten wie Kona, die nie ernsthaft über den Glauben nachgedacht hatten; er las ihnen aus dem Koran vor und erzählte ihnen Geschichten von dem Ort, an dem ihr Glauben entstanden war, in der Wüste Arabiens, in der die sich bekriegenden Stämme der Koreisch im Schatten der Kaaba zueinander fanden.
Andere Religionen hatten ihre Heiligen, ihre Ikonen. Sie hatten ihre Kirchen, ihre Evangelien, ihre Gebote, ihre Zwistigkeiten, ihre Verbannungen, ihre Wunder. Wir, sagte er, haben unseren Propheten und unser Buch. Das Buch war das eigentliche Wunder. Es war so einfach. Das war die Macht der Botschaft. Das heilige Buch machte sie zu Brüdern und Hütern ihrer Brüder. Es versprach Gleichberechtigung. Es versprach Freiheit. Es war perfekt.
Das Buch kannte jede seiner Sorgen und jede Verletzung. Es hatte etwas zu dem Messer an der Kehle eines Unschuldigen zu sagen, zum Tag, an dem sein
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