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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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sein.«
    »Hast du gehört? Du kennst ihn nicht persönlich?«
    »Er wird sehr empfohlen. Ich brauche mehr Zeit für die Moschee, ich kann mich nicht um Zaid kümmern. Er – er braucht eine starke Hand. Das wirst ja selbst du einsehen.«
    »Bitte laß ihn bei uns wohnen, bei Ammu und mir. Er hat seine Mutter verloren.«
    »Ich bin dankbar für deine Bemühungen, Maya, aber ich glaube, wir wissen beide, daß die Situation dabei ist, außer Kontrolle zu geraten. Kannst du mir garantieren, daß er nicht mehr stehlen wird? Außerdem denkt er sich ständig Sachen aus. Der Junge lebt in einer Phantasiewelt. Das ist nicht richtig.«
    Sie konnte nicht garantieren, daß der Junge nicht mehr stehlen würde. Sie konnte gar nichts garantieren – die Hälfte der Zeit wußte sie nicht einmal, wo Zaid gerade steckte oder warum er mit Schürfwunden an den Armen nach Hause kam oder nach Erbrochenem roch.
    »Ammu braucht dich«, fuhr Sohail fort, »das sind deine Pflichten.«
    »Zaid braucht uns auch. Bitte, Bhaiya.« Sie bekam keine Luft mehr. »Es tut mir leid wegen der Schuhe, ich hätte dich vorher fragen sollen. Aber Koranschule, das ist zuviel, Bhaiya, selbst für dich.«
    Seine Stimme wurde so hart, als hätte sich seine Kehle in Metall verwandelt. »Er ist mein Sohn. Die Entscheidung ist gefallen. Am Mittwoch nach dem Dhuhr reist er ab.«
    Es gab nichts mehr zu sagen; seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu. »Und Ammu?«
    »Sag Salaam zu Ammu.«
    Sogar seine eigene Mutter verleugnete er. »Du willst nicht zu ihr hineingehen?«
    »Sag ihr, daß wir für ihre Genesung beten, Inschallah.«
    Und damit war er verschwunden.

    Natürlich würde der Junge nie mitmachen. Er würde sich weigern, und sie würde den nächsten Streit mit Sohail ausfechten. Diesmal würde sie sich besser vorbereiten, Ammu würde ihr zu Hilfe kommen. Doch am nächsten Tag fand Maya Zaid auf dem Dach, er tanzte und pflückte Blätter von dem Zitronenbaum, der seine Zweige im Erdgeschoß zu den Fenstern hereinstreckte, und ließ sie sich über den Kopf rieseln. Dann stürmte er die Treppe herunter, jah-jah-jah, um den Bauch einen brandneuen Lungi, der so gestärkt war, daß Zaid runder aussah, als er wirklich war, mit einer kurzärmligen Kurta und einem Käppchen auf dem Kopf. In den Armen hielt er eine kleine Reisekiste.
    »Guck mal, meine neuen Sachen!« Er legte die Kiste auf den Boden und öffnete die Schnappverschlüsse andächtig. Seine Fingernägel waren geschnitten. Begeisterte Hände brachten die Schätze darin zum Vorschein. Ein Kamm. Ein Niemzweig zum Zähneputzen. Ein Koran mit knisternden neuen Seiten. Zwei neue Lungis. Und die Chappals, in Zeitungspapier gewickelt. Sein Vater war zum Laden gegangen und hatte sie bezahlt.»Guck mal, man kann es sogar abschließen«, sagte er und zeigte ihr den Schlüssel, den er an einer Schnur um den Hals trug.
    Sie konnte nichts mehr tun. Sie wollte ihm etwas für seine Kiste schenken. Was könnte sie ihm mitgeben? Photos waren verboten. Kein Buch außer dem Koran erlaubt. Spielzeug kam nicht in Frage.
    Am Ende packte sie ihm ein paar Bällchen aus süßem Puffreis ein. »Hier«, sagte sie, »was zum Essen für die Reise.«
    Er legte sie vorsichtig in die Kiste und paßte auf, daß ja nichts in Unordnung geriet.
    »Und wirst du zurechtkommen?«
    Zaid lächelte, weil er sich immer noch freute. Schule. Andere Kinder. Nicht mehr die Frauen von oben, die sich sorgten, daß er zu alt wurde, um mit ihnen zusammenzusein. Und die schwere Hand seines Vaters auf seinem Kopf.
    »Und wie kommst du da hin?«
    »Mit Abbu. Er sagt, wir fahren erst mit dem Zug und dann mit der Fähre. Und dann mit dem Bus und der Rikscha.«
    Sie schloß die Augen und malte sich seine Reise aus. Er hielt die Hand seines Vaters – hatte er das je kennengelernt, den festen Druck der Hand seines Vaters? Himmlisch. Und die Fähre, der zuckersüße Tee, auf dem Fluß der Fahrtwind, der ihn umhüllte, der Himmel so groß und so offen, daß er einem kleinen Jungen ein Stückchen Welt schenkte. Und an dieser Stelle stieß Mayas Vorstellungskraft an ihre Grenzen.

    Die zusammensinkenden Lehmwände des Gebäudes, an vielen Stellen grünes Moos. Der Innenhof übersät mit Hühnerknochen, ein schmutziger, mit Auswurf verklebter Abfluß. Zaid schluckt einen Kloß der Enttäuschung herunter, sein Herz schlägt einen Augenblick höher, als der Chor von Stimmen in den Hof weht. Schnell läßt sein Vater seine Hand los, und plötzlich steht der Huzur vor

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