Mein fremder Bruder
Rolle mehr gespielt, daß sie ohne Vater aufgewachsen waren, daß ihre einzigen Angehörigen tausend Meilen entferntwohnten und nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollten: weil alle Freiheitskämpfer sich wie Verwandte fühlten und mit ihren Müttern und Schwestern eine eigene Großfamilie bildeten, als hätten sie einen gemeinsamen Stammbaum und sähen einander ähnlich. Doch das war, bevor Silvi und Sohail mit ihren Anhängern und Gemeindemitgliedern eine eigene Familie gründeten. Sie brauchten keinen Freiheitskampf mehr, und ihr eigen Fleisch und Blut ebensowenig.
Nach der Zeremonie servierte Mrs. Chowdhury Tee und Luchi-aloo, fritiertes Ballonbrot und saures Kartoffelcurry. Ammu fragte Maya, ob sie vielleicht ein Lied singen wolle, doch Silvi schüttelte den Kopf und flüsterte nein. Maya bemerkte, wie ihre Mutter ohne Widerrede gehorchte. Schweigend aßen sie ihr Luchi-aloo.
Nach der Mahlzeit erschien Mrs. Chowdhurys Diener mit einem roten Koffer, den er Sohail aushändigte. Dann überquerten sie zu viert, Rehana, Sohail, Silvi und Maya, die Straße und kehrten in den Bungalow zurück. Mrs. Chowdhury begleitete sie nicht einmal bis ans Tor; Silvi schien nicht traurig darüber zu sein, daß sie ihr Zuhause und ihre Mutter verließ.
Nachdem er das Mädchen von gegenüber immer geliebt hatte, Zeuge ihrer Verheiratung mit einem anderen geworden war, mitangesehen hatte, wie dieser gestorben war, er sein Verlangen nach dem Mädchen, das er in der Kaserne gefunden hatte, überwunden hatte, hatte Sohail nun endlich seine Braut bekommen. Maya wußte, daß Sohail trotz der freudlosen, stillen Zeremonie die Befriedigung darüber genießen mußte.
Und das Dach? Die Predigten gingen weiter, aber die vielen verschiedenen Gesichter Gottes kamen nun nicht mehr vor. Es gab nur noch Einen. Eine Botschaft. Ein Buch. Die Welt wurde kleiner. Vorhänge wurden zwischen Männern und Frauen gezogen, Linien in den Sand. Und Silvi im schwarzen Mantel regierte im Herzen ihres Bruders.
1984
Oktober
Am Morgen hat die Zelle ihre Wirkung getan. In seiner Kehle ist kein Schrei mehr, kein Wort. Er hält seinen Teller umklammert, er ist nicht mehr einsam, das Herz tut ihm nicht mehr weh beim Gedanken an die sich entfernenden Schritte seines Vaters, und er will auch nicht mehr den Weg zurück nach Hause finden. Er hat nur noch Hunger. Er kann nur noch daran denken, was seinen Teller füllen wird.
Er wird auf den Hof geführt, wo er ins Licht blinzelt und den federleichten Duft des Morgens einatmet.
Die anderen sitzen schon und haben die Finger bereits in ihr Frühstück getaucht. Ein Kreis aus Augen folgt ihm, als er sich hinsetzt und den Teller vor sich auf den Boden stellt. Sie lachen, eine Sekunde bevor ihm eine Hand einen festen Schlag auf den Hinterkopf versetzt. »Wudu und Beten, dann kannst du essen, du Bodmaish.«
Er entdeckt das Rechteck aus Beton, auf das er sich hocken soll, und den kleinen Wasserhahn, der außen an dem Gebäude angebracht ist. Die meisten Jungen essen, aber ein paar beobachten ihn, während er sein Käppchen abnimmt, mit der einen Hand eine Kreisbewegung über der anderen macht, in Nase und Ohren bohrt. Er betet.
Endlich darf er essen. Der Reis ist kalt und zu Brei zerkocht, aber er verschlingt ihn in Riesenbissen. Als er den letzten Mundvoll schluckt, bewirft ihn ein Junge mit Kieselsteinen.
Die Unterweisung im Morgengrauen hat er versäumt. Nach dem Frühstück wird er in einen Raum mit niedrigen Holzpulten in langen Reihen geführt. Wenn er sich im Schneidersitz auf den bloßen Lehmboden setzt, geht ihm das Pult, auf das er seinen Koran legen kann, bis an die Brust. Vorn im Raum sitzt ein Mann hinter einem breiten Tisch. Sein aufgeschlagener Koran ist an eine dreieckige Buchstütze gelehnt. In der Hand hält der Huzur einen Rohrstock, auf dem das Licht blinkt. Schatten tanzen wie Schlangen durch den Raum.
Zaid tut so, als würde er mit dem Finger unter den Zeilen lesen, schaukelt mit dem Oberkörper vor und zurück, als wäre er auf hoher See und würde von den Wellen hin- und hergeworfen, doch jetzt wandern seine Gedanken zurück zu seinem Vater, zur Zelle, der Fahrt mit der Fähre, und als der Zorn in ihm aufsteigt, ist er auf einmal sehr müde, und die Augen fallen ihm zu. Um wach zu bleiben, konzentriert er sich auf das gedrehte Stück Peddigrohr und die Vorstellung, wie es auf seinen Beinen landet. Er überlegt, ob er wohl in das Zimmer des Huzur eindringen und sich seine Puffreiskugeln
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