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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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anzurufen und ihrer Freundschaft ein wenig Normalität zu verleihen. Aber das war nicht möglich gewesen. Und jetzt das hier, dieses Mysterium. Joy hatte vermutlich nicht gewußt, was ihn erwarten würde, aber ein überheblicher Teil seines Wesens hatte vielleicht geglaubt, daß er es würde durchschauen können. Immerhin kannte niemand Sohail so gut wie er, niemand als er hatte ihm die Würmer aus dem Brot geschüttelt oder die Läuse aus den Haaren gesucht, niemand als er war mit ihm zusammen durch den Qualm und das Krachen der Granaten gerannt. Niemand als er war in Gefangenschaft geraten, während Sohail entkommen war.
    Joy stand auf. Sohail erhob sich ebenfalls. Sie umarmten sich.»Du wirst mir immer ein Bruder sein«, sagte Sohail mit leuchtenden Augen.
    »Du mir auch«, antwortete Joy. Die Wut war aus seinem Gesicht gewichen und hatte etwas anderem Platz gemacht – einer gewissen Sehnsucht, vielleicht sogar Neid. Vielleicht hatte Joy die dunkle Ahnung, daß dieser Mann besser schlief als er selbst, daß er nicht das Mark aus seinen Erinnerungen zu saugen oder vor ihnen in eine Wolkenkratzerstadt zu fliehen brauchte. Sohail, der sich den aus seinem Kinn ragenden Bart strich, schien nichts von alledem anzufechten – wie grau sein Bart schon war, wie schäbig sein Haus, wie fleckig die Teppiche, wie rauh der Betonboden, wenn man die Schuhe auszog, um sein Reich zu betreten. Nichts schien ihm irgend etwas auszumachen. Nichts auf dieser Welt.
    »Khodahafez«, sagte Joy, dessen Hände Sohail zwischen den seinen hielt.
    »Komm bald wieder.« Sohail wandte sich ab, und Maya vermutete, daß er damit Joy und sie schon wieder vergessen hatte, weil dringendere Angelegenheiten anstanden – Gebete, Predigten. Das Leben nach dem Tod.
    Die beiden gingen schweigend die Treppe hinab, und als sie unten waren, mochte Maya Joy noch nicht gleich ins Auto steigen und wegfahren lassen. Sie wußte, daß er etwas von dem fühlte, was sie fühlte, daß beide von diesem Zusammentreffen mit ihrem Bruder und den unbeantworteten Fragen aufgewühlt waren. Also stellte sie ihm eine Frage. »Erzähl mir von deiner Gefangenschaft«, sagte sie. »Ich will wissen, was dir zugestoßen ist.«

    *

    Die mit dem Rücken zum Fluß erbaute Stadt Dhaka hatte nur wenig, was für sie sprach. Die engen Straßen standen häufig unter Wasser; breite Boulevards oder großartige Prachtstraßen oder Ausblicke, bei denen das Herz höher schlägt und der Dichter die Feder zückt, gab es nicht. Trotzdem platzte die Stadt nach dem Krieg aus allen Nähten, weil so viele Menschen kamen, die nicht wußten wohin, und noch mehr Menschen, die nichts zu essen hatten. Auf den Dörfern hing der Geruch nach verbranntem Stroh in der Luft, vor dem sie in die Stadt flohen, wo sie dann blieben wie so viele vor ihnen. Die eine Art von Gewalt ließen sie hinter sich, eine neue erwartete sie. Und doch entschieden sie sich für diese Straßen, auch wenn sie noch so eng und staubig waren, zogen sie dem Leben am Fluß vor, der sie bei jedem Monsun einschloß, und einem Leben voll flehender Blicke gen Himmel, in der einen Woche in Hoffnung auf Regen, in der nächsten auf Sonne, mit nassen Füßen und krummem Rücken von der gebückt zu verrichtenden Arbeit auf den Reisfeldern.
    Sehr viel hatte Joy nie für die Stadt übrig gehabt, aber an dem Tag, an dem er aus der Gefangenschaft entlassen wurde, verliebte er sich mit einemmal in sie. An jenem Morgen schloß der junge Subedar Joys Zelle auf, drehte sich schweigend um und schloß sich der abziehenden pakistanischen Armee an. Joy half seinen Mithäftlingen Raheem, Sultan und dem alten Abbass auf die Füße. Die anderen drei zögerten auf der Schwelle, weil sie nicht glauben konnten, daß es kein Trick war, um sie vor das Exekutionskommando oder in den Beinraum zu locken. Doch Joy hatte gehört, wie laut die indischen Kampfflugzeuge über sie hinweggeflogen waren, und wußte, daß der Sieg kurz bevorstand.
    Während der drei Monate in der Gefangenschaft hatte Joy nicht gesprochen. Nicht ein Wort der Zustimmung, des Protests, des Leugnens, kein Kopfschütteln, keine Handbewegung. Im Guerillalager in Sonamura hatten sie irgendwas – was, wußte er nicht mehr – für den Fall ihrer Gefangennahme gelernt, aber es war, genau wie ihre restliche Ausbildung, oberflächlich gewesen, beiläufig, als ob so ein Fall nie eintreten würde. Ihre Ausbilder hatten alle eventuellen Katastrophen in diesem Ton abgehandelt, hatten mit trockener Stimme

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