Mein fremder Bruder
Chemotherapie hat nicht angeschlagen«, sagte Dr. Sattar. Er würde ein Stück ihrer Leber entfernen müssen. Als Rehana das erfuhr, lachte sie, und die anderen wußten natürlich, was sie daran so lustig fand. Kolijar tukra, Stück meiner Leber , war ein beliebtes bengalisches Kosewort, und sie hatte ihre Kinder oft so genannt. Mein Schatz, mein Herz, Stück meiner Leber. In all den Jahren hätte sie nie gedacht, daß sie eines Tages ein Teil ihres Organs würde weggeben müssen. Sie sagte: »Lassen Sie bloß noch genug davon drin, Dr. Sattar. Soweit ich weiß, habe ich nur die eine.«
Die Operation wurde gleich für den nächsten Tag angesetzt. Als Maya an diesem Abend beim Packen half, Zahnbürste, Kamm, Gebetsmatte, hatte sie das Gefühl, sie hätte sich Worte für genau diesen Fall zurechtlegen müssen. In den Monaten, die seit der Tumordiagnose ihrer Mutter vergangen waren, hätte sie sich vorbereiten sollen. Doch was hatte sie statt dessen getan? Hatte ihrer Mutter die Haare geschoren, ihr Medikamente verabreicht, war immer wieder mit ihr ins Krankenhaus gefahren, hatte kurzangebundene Anrufe bei ihren Freundinnen gemacht: Ja, es geht ihr schon besser, ja, sie hat Appetit. Vielen Dank für das Essen, das Sie ihr geschickt haben, ja, es hat ihr geschmeckt, genau, sie muß ihre Kräfte beieinanderhalten. Könnten Sie so gegen zehn kommen? Morgens fühlt sie sich meistens besser.
Und sie hatte einen gewissen Frieden mit denen von oben geschlossen. Sie konnte ohne bohrenden Zorn an ihren Bruder denken, sie konnte den abgeklärten, distanzierten Mann, der er geworden war, ansehen, und sie konnte im Bett liegen und dem chaotischen Getrappel über sich lauschen, und die SchwärmeMänner und Frauen in wehenden Gewändern die Treppe rauf- und runtergehen sehen. Und ja, sie konnte sogar an den vernachlässigten Zustand des kleinen Zaid denken und sich sagen, daß alles nur eine Folge widriger Umstände war.
Sie wurde erwachsen, sagte sie sich. Da war ihre Mutter, und da war die Stadt, an die sie sich erst wieder gewöhnen mußte, und an das fehlende politische Bewußtsein, und vielleicht, ganz vielleicht, war das der Anfang eines Waffenstillstands mit Sohail. Mehr nicht. Schweigend faltete sie Rehanas Kleider, lauschte, ob schon wieder Regen auf die Blätter trommelte, damit sie eine Bemerkung über das Wetter machen konnte oder damit sie etwas über den Garten sagen konnte, daß er bald unter Wasser stehen würde, wenn es noch einen Regenguß gab. Im Kopf legte sie sich ein paar Sätze zurecht, doch keiner klang richtig. Sie dachte an etwas, das Dr. Sattar gesagt hatte. »Noch hat die Krankheit nicht gewonnen.« Daran klammerte sie sich.
Rehana saß aufrecht im Schneidersitz im Bett, die rechte Hand auf dem Koran. »Du mußt dich ausruhen, Ammu, du weißt doch, wie es auf der Station ist.« Jetzt hatte es doch noch zu regnen begonnen, weicher Nieselregen warf graue Schleier über das Zimmer.
»Hier steht geschrieben, Allah will sich in Gnade zu euch kehren. Weißt du, was das bedeutet?«
»Nein.«
Sie klappte das Buch zu. »Du hast nie richtig aufgepaßt bei deiner Ustani.«
Maya ließ sich neben ihrer Mutter aufs Bett fallen. »Sie hat mir ja auch nie irgend etwas richtig erklärt. Außerdem hat sie mir gesagt, ich soll mich zwischen den Beinen rasieren.«
Rehana riß die Augen auf. »Das glaube ich dir nicht.«
»Das ist kein Witz! Sie meinte, dann wäre man reiner. Aber weißt du noch, Ammu, wie sie sich ständig da unten gekratzt hat?«
»Nein, das weiß ich nicht mehr.«
»Doch, ehrlich, ich habe immer gedacht, sie hat einen Mann unter ihrer Burka versteckt. Oder einen Moskitoschwarm.«
» Tst-tst! « Rehana gab Maya einen kleinen Klaps auf die Wange und schüttelte lachend den Kopf. »Du bist immer noch so schlimm wie damals als kleines Mädchen, als du jedesmal so getan hast, als wärst du krank, sobald deine Lehrerin gekommen ist. Weißt du noch, daß du ihr erzählt hast, du hättest deine Periode, dabei warst du gerade mal acht Jahre alt?«
»Wie der Blitz ist sie aus dem Haus geschossen!«
»Und wann will mein kleines Mädchen endlich mal erwachsen werden, hmm? Mir ein paar Enkel schenken?«
»Na, dazu müßte ich ja wohl erst mal heiraten.«
Rehana legte die Hand auf den Einband des Korans und fuhr die Goldbuchstaben mit dem Finger nach. »Als ich geheiratet habe, kannte ich deinen Vater kaum. Nachdem die Ehe arrangiert worden war, gab es ein Photo, das im Haus die Runde machte, aber ich
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