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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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aber doch nicht. »Hast du da geheiratet?« fragte er unvermittelt.
    »Ja, woher weißt du das?«
    »Ein Mann sollte heiraten. Hast du Kinder?«
    »Nein.«
    »Du solltest Kinder haben.«
    »Ich bin geschieden.«
    Sohail nickte. »Warum heiratest du nicht sie?« fragte er.
    Maya brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, was damit gemeint war. Sie war überzeugt, daß ihr Bruder gleich laut losprusten, sich den Bauch halten und für den dummen Witz entschuldigen würde. Nichts dergleichen geschah. Statt dessen fuhr er fort: »Warum nicht? Sie wird langsam alt.«
    »Aber wir lieben uns nicht«, warf Maya ein. »Glaubst du nicht mehr an die Liebe?«
    Joy trank einen großen Schluck Limonade. »Weißt du was, Sohail, du hast gar nicht so unrecht, ich sollte heiraten. Aber sie hier läßt sich von mir noch nicht mal zu ein paar Phuchkas einladen.«
    »Es gibt auch noch andere.«
    »Genau«, sagte Maya, »die Welt ist voll verzweifelter Frauen.« Sie wußte, daß sie sich unmöglich benahm; sie hätte leicht darüber hinweggehen oder eine witzige Bemerkung machen sollen. Immer nahm sie alles zu ernst.
    Ein betretenes Schweigen entstand. Maya wollte aufstehen, aber ihre Beine waren schwer wie Blei, außerdem wollte sie wissen, was sie als nächstes zueinander sagen würden und ob Joy die Frage stellen würde, die ihm auf der Seele brannte, wie sie wußte. Was hatte Sohail hier zu suchen, in diesem Verschlag auf dem Dach seines Elternhauses, warum zog er einen Sohnohne Liebe groß, warum dieser Bart, diese Kostümierung, diese demonstrative Ruhe und Gelassenheit? Statt dessen fragte er: »Denkst du oft daran?«
    »Woran?«
    »An den Krieg – an die Dörfer, die wir gerettet haben, und die, die wir nicht retten konnten?«
    Sohail gab keine Antwort.
    »Und mein Bruder, denkst du noch an ihn?«
    »Ich denke jeden Tag an ihn«, erwiderte Sohail. »An deinen Bruder und deinen Vater. Und dich. Du hast mir das Leben gerettet, Joy. Das werde ich dir nie vergessen.«
    Joy war gefangengenommen worden, während Sohail entkommen war.
    »Das war nicht ich«, sagte Joy.
    »Gott ist groß.«
    So hatte Joy das nicht gemeint. Er hatte gemeint, daß es reiner Zufall gewesen war, daß die Soldaten ihn und nicht Sohail gefunden hatten. Beide schwiegen und dachten an jene lange Novembernacht. »Warum hast du dich so verändert, Sohail?« fragte Joy schließlich. »Was hat dich so werden lassen, wie du jetzt bist?«
    Maya dachte, daß Sohail eine schnelle Standardantwort auf diese Frage bereit hätte, etwas darüber, daß sein Weg nur natürlich sei, daß die Frage nicht sei, warum er so geworden war, sondern warum Joy sich der Gemeinschaft noch nicht angeschlossen habe. Doch er zögerte und wirkte fast nervös, wie er das Glas in der Handfläche drehte. Er schien keine Antwort für Joy parat zu haben.
    Joy wandte das Gesicht ab und sah Maya in die Augen. Bis zu diesem Augenblick hatte sie geglaubt, er meine es nicht ernst mit seiner Frage, sondern wolle Sohail nur dazu bringen, irgend etwas Albernes zu sagen, doch jetzt wurde ihr mit einemmal klar, daß er zornig war, sehr zornig sogar, so als ob Sohails neues Leben etwas mit dem Tod seines Bruders zu tun hätte.
    »Das sind Dinge, die sich nicht mit einem Satz erklären lassen. Warum kommst du nicht zum Talim? Dann können wir das alles besprechen.«
    Der andere Mann kam wieder zurück und flüsterte Sohail etwas ins Ohr. »Khadija-ma will wissen, ob deine Gäste länger bleiben.«
    »Sag ihr, daß sie bald gehen werden, Inschallah.«
    Es war Zeit zu gehen; es gab nichts mehr zu sagen. Maya konnte Joy die Enttäuschung am Gesicht ablesen. Ihr war klar, daß Joy oft an Sohail gedacht haben mußte, in Gefangenschaft und dann in New York, als Taxichauffeur. Sie ging davon aus, daß sich Joy beim Taxifahren nicht über seine Vergangenheit mit dem Gewehr in der Hand, von Hunden gehetzt, ausgelassen hatte. Er hatte sich wahrscheinlich beigebracht, wie man den höflichen Ausländer mimte und ›Einen schönen Tag noch‹ und ›Wo soll’s denn hingehen, die Dame‹ sagte, daß er gelernt hatte, wie man über das Wetter sprach, weil es immer ein angemessenes Gesprächsthema und zugleich eine Methode war, jedes Gespräch zu vermeiden.
    In der fremden Stadt, in der er nur Taxifahrer und kein Freiheitskämpfer war, wo es sein heldenhaftester Akt gewesen war, ab und zu einmal über eine rote Ampel zu fahren, muß er an Sohail gedacht haben, erwogen haben, ihm zu schreiben, ihn am anderen Ende der Welt

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