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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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Rechteck Schmerz. »Mach«, sagte er, »bring diese verdammten Scheißvögel zum Schweigen, sonst kriegst du eine Kugel ins Arschloch, das schwör ich dir.«
    Joy ging auf die Knie und zeigte auf den Baum. Erst mal geschah gar nichts: Die Vögel hüpften weiter auf dem Fenstersims herum, pickten und flatterten und zwitscherten. Dann trennte sich ein kleiner Vogel von den anderen, flog auf und segelte in einem großen Kreis über das Gebäude. Die Soldaten hoben den Blick, als er zu ihnen zurückgeflogen kam und ganz leicht auf Joys ausgestrecktem Finger landete. Mit der anderen Hand streichelte Joy das Vögelchen, das auf seinem Arm hochhüpfte, bis es schließlich auf seinem gebeugten Ellbogen saß. Das war der letzte Tag, an dem Joy unversehrt war; später nahmen sie seinen Finger in Zahlung, damit die Vögel einen Platz weniger hatten, auf dem sie landen konnten, einen Grund weniger, zu singen.

    Als Joy im Februar befreit wurde, verliebte er sich in die Stadt. Dhaka war das erste, was er sah, als er die Augen öffnete, und in der Stadtluft sprach er die ersten Worte. Es war der einzige Ort, an dem er sein wollte. Er ging zu Fuß nach Hause, aus der Kaserne und durch die lebhaften Straßen, wo ihn Unbekannte umarmten, die beim Anblick seiner vernarbten Arme, seines fehlenden Fingers aufschrieen.
    Erst als er zu Hause war, erfuhr er, daß auch sein Vater dem Krieg zum Opfer gefallen war. Er betrat sein Elternhaus und sah seine Mutter im weißen Sari und wußte Bescheid. Sie schickte ihn weg, so weit weg von Dhaka, wie sie nur konnte, nahm einen Kredit auf das Haus auf und brachte ihren Brautschmuck zur Pfandleihe. Und er ergriff die Gelegenheit beim Schopf und floh, ohne zurückzublicken, ohne Trauer, ohne Reue.

    Er hatte nie darüber nachgedacht, warum er in jener Nacht gefangengenommen worden war. Es spielte keine Rolle. An jenem Novembermorgen, an dem es einfach nicht regnen wollte, war er sechs Stunden lang gerannt, war von dürren Bäumen und Büschen zerkratzt worden, gehetzt vom Hundegebell hinter sich, bis er keine Luft mehr bekam – und in den paar Sekunden, die die Soldaten brauchten, um ihn einzuholen, hatte er Zeit, sich zu überlegen, ob er sich erschießen sollte, aber nicht genug Zeit, um sich das Gewehr an den Kopf zu setzen. Und als der Tag heiß und müde anbrach und er an Händen und Füßen zusammengekettet in die Stadt zurücklief, dankte er den Soldaten für ihre Schnelligkeit, weil er nicht sterben wollte, nicht an diesem Tag, nicht in diesem Jahr, in dem er das Blut in roten Bändern aus seinem Bruder hatte fließen sehen.

    Lehrer Lehrer Lehrer Huzur Huzur Huzur. Deine Peitsche ist eine Schlange. Warum schlingst du dich um meinen Arm? Warum keno por que? Ich spreche alle Sprachen, nur Arabisch kann ich nicht. Wegen meinem Arabisch muß ich büßen. Buße auf meiner offenen Hand. Zaid ist eine Waise, die vom Propheten adoptiert worden ist. Ich bin ein Waisenkind. Der Prophet war ein Waisenkind. Segen und Frieden dem Waisenkind, das der Prophet einmal war. Als meine Mutter gestorben ist, hat der Kazi gesagt: Jetzt bist du ein Waisenkind. Mein Vater hat mich über den Fluß gebracht und hat zum Huzur gesagt: Jetzt ist er in Ihren und in Allahs Händen. Der Huzur nimmt meine Hand. Er legt meine Hand auf seine Hitze. Seine Peitsche ist eine Schlange. Seine Schlange ist eine Peitsche. Hände an der Hitze. In der Hand des Huzur. In Allahs Händen. Weil ich meine Hände nicht bei mir behalten habe. Weil sie gestohlen haben. Münzen und Geldscheine. Warum hältst du mir die Hände auf dem Rücken fest? Keno warum pourquoi? Ich sage immer, sie sollen mir drei Sachen beibringen. Guten Tag und auf Wiedersehen, Friede auf Erden, und warum. Das Warum wollen sie mir nicht so gern beibringen. Ich erfahre es trotzdem. Warum warum warum. Warum hast du mich dem Huzur in die Hände gegeben? Warum die Hände vom Huzur? Seine Hand auf meiner Hand. Meine Hand in seiner Hand. Einer von den Jungen hat mir gesagt, daß es für alle neuen Jungen so ist. Er ist froh, daß ich da bin, jetzt braucht er nicht mehr zum Huzur. Du siehst zu hübsch aus, sagt er. Graue Augen. Ich bin das Waisenkind des Propheten. Der Huzur mag helle Augen. Die Hand vom Huzur in meiner Hand. Alle Jungen lachen. Die Türen sind immer abgeschlossen. DenSchlüssel trägt der Huzur um den Hals. Das Klo ist draußen, es ist ein in die Erde gegrabenes Loch. Tief. Fließt in den Fluß. So lange kann ich den Atem anhalten.

1984
Dezember
    »Die

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