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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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die Augen, wobei sie langsam wie betrunken vor und zurück schwankte. Maya ging vor ihr in die Hocke und musterte sie. Schweißbäche kreuzten sich in ihrem Gesicht, und ihre Lippen waren feucht und kraftlos. Unter dem Tschador war die Wölbung ihres Bauches zu sehen. »Geh doch rein, Rokeya«, sagte Maya, »du bekommst noch einen Hitzschlag.«
    »Ich muß hier bleiben.« Sie lächelte schwach. »Es ist in Ordnung.« Wie eine Blume wandte sie sich wieder der Sonne zu.
    »Ich habe einen Gast mitgebracht. Einen Mann.«
    Eilig zog Rokeya sich den Niqab über den Kopf. »Hier entlang«, sagte Maya zu Joy und widerstand dem Drang, ihm zu erklären, warum Rokeya in der prallen Sonne kniete, oder den Rest der Örtlichkeit, die kleinen Dreckhäufchen überall, die mit Papier zugeklebten Fenster, den Gestank nach Bratfett und Urin.
    Am Eingang zum Vorraum fragte Maya mit lauter Stimme nach dem Huzur.
    »Wer ist da?« kam die Antwort.
    »Seine Schwester, Sheherezade Maya.« Es kam so selten vor, daß sie ihren vollständigen Namen benutzte, daß es die ganze Situation noch merkwürdiger machte.
    »Warte«, sagte die Stimme von drinnen.
    »Sag ihm, daß sein Freund Joy hier ist.« Wie hieß Joy nur richtig? Farshad? Farhan? »Farhan Bashir.«
    Sie warteten im Schatten des Eingangs. Mehrere Minuten vergingen. Keiner von beiden sagte etwas. Joy stand regungslos mit dem Rücken zu dem Verschlag da und blickte hinaus auf die Straße. Dann Schritte. Der Vorhang ging auf, ein paar Männer kamen heraus, die Maya ansahen und den Blick schnell wieder abwandten. Sie versammelten sich unten an der Treppe, wo sie vermutlich auf ein Signal warteten, daß sie zurückkommen durften.
    Ein Mann bat sie herein. Der Raum war kleiner als der Saal der Frauen, hatte dafür aber auf zwei Seiten Fenster und innen eine frische Schicht weißer Farbe. Der Boden war mit lauter verschiedenen Teppichen und dicken weißen Laken bedeckt.
    Sohail erwartete sie. Als sie auf ihn zukamen, erhob er sich, begrüßte Joy mit einem herzlichen Händedruck und umarmte ihn dreimal. »As-salamu ‘alaikum.« Er nahm in der Mitte des Raumes Platz. »Bring die Limonade«, sagte er zu dem Mann, der sich in seiner Nähe aufhielt.
    Sohail ignorierte seine Schwester völlig, und sie fragte sich, obsie wohl gehen sollte, aber die Neugier hielt sie auf ihrem Platz. Joy nickte, als Sohail etwas sagte. Maya dachte, daß er bestimmt gegen den Drang ankämpfte, sich umzugucken und nach dem alten Sohail zu suchen. Kein Bücherregal, keine Schallplatte war zu sehen – das hatte er vorher gewußt. Aber in der Art, wie Sohail seinen Namen aussprach oder ihm die Hand bei der Begrüßung auf die Schulter legte. Irgendwo mußte es Reste von dem Mann geben, der er einmal gewesen war, den er mittlerweile abgelegt hatte wie eine Schlange ihre alte, schuppige Haut.
    »Ich bin so froh, daß du gekommen bist. Ich habe oft an dich gedacht.«
    Er überreichte Joy ein kleines grünes Glas.
    »Ich habe auch an dich gedacht.«
    Es war zärtlich wie das Treffen eines alten Liebespaars. Beide waren verlegen und guckten in ihre Limonadegläser. Joy begann ein Gespräch über alltägliche Dinge. »Die ersten fünf Jahre lang bin ich Taxi gefahren, neben meinem Studium. Es war gar nicht so schlecht«, sagte er. »Ich habe jede Menge interessanter Leute kennengelernt. Sie erzählen einem alles, als ob ich ihr Beichtvater wäre.«
    »Da habt ihr zwei ja etwas gemeinsam«, sagte Maya, die wünschte, die beiden würden aufhören, einander so durchdringend anzustarren.
    Sie schenkten ihr keine Beachtung. »Und warum bist du zurückgekommen?« fragte Sohail und streckte die Hand aus, um Joy das Glas nachzufüllen.
    »Das fragen mich alle. Weil es nicht so großartig in Amerika ist, wie immer behauptet wird.«
    »Manchmal glauben wir, daß etwas sehr wichtig ist, doch dann erweist es sich als ganz unbedeutend.« Sohail nahm die Kappe vom Kopf, so daß sein dichtes, graumeliertes Haar zu sehen war, das die gleiche Farbe wie sein Bart hatte. Er fuhr sich einmal kurz hindurch, setzte die Kappe wieder auf und drückte sie auf dem Hinterkopf fest. »Auch ich habe mich sehr lange an bestimmte Dinge geklammert. Zu lange.«
    Maya fragte sich, ob er wohl über den Krieg reden würde, und lehnte sich vor, um ihn besser zu verstehen. Joy sagte: »Ich bin ja nicht des Geldes wegen nach Amerika gegangen. Ich hatte andere Gründe.«
    Sohail schien zu überlegen, ob er sich nach den Gründen erkundigen sollte, tat es dann

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