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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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und kurzen Sätzen knappe Anweisungen gegeben, als ob nie einer bei einem Einsatz erschossen und am Kragen weggezerrt und an den nächsten Baum gelehnt werden würde, wo ihm sein Bruder beim Sterben zusehen mußte.
    Dreiundzwanzig waren sie, die im November an einem heißen, regendurstigen Morgen gefangengenommen worden waren. Joy sah, wie sie, einer nach dem anderen, nach nebenan gebracht wurden, in den Beinraum. Und zum Sprechen gebracht wurden. Und sobald sie sprachen – sagten ja, ich bin ein Mukti, ja, ich habe gegen die Armee gekämpft, ja, ich habe unser Land betrogen, ja, ja, ich bin ein Verräter, ja, ich glaube an Bangladesch, ja, ich bin von Sheikh Mujib verführt worden, Sheikh Mujib ist ein Schwein, ich bin ein Schwein, ja, ja, ja –, hörte das, was ihnen angetan wurde, auf. Und die anderen, vereint im Haß auf den Fäkalieneimer in der Ecke, die Schläge auf die Fußsohlen, das Wort »Scheißkerl«, das jedesmal an ihren falsch ausgesprochenen Namen gehängt wurde, konnten sich entspannen und ruhig schlafen, bis sie, am nächsten Morgen, vom Ruf des Muezzin, gefolgt vom trockenen Bellen der Gewehrkugeln, geweckt wurden.
    Daß die Soldaten ihre Erschießungen in der Morgendämmerung vorzunehmen beliebten, war eine ihrer nicht zu durchschauenden Angewohnheiten, genau wie das allmorgendliche Fleischessen.
    Stille – und dann der Schuß. Mehr Ausbildung brauchte Joy nicht. Als sie ihn nach draußen auf den Hof brachten, schrie und fluchte und spuckte und wütete er nicht. Er tat so, als könne er keinen Laut von sich geben, und bald schon wurde es zu schwierig, nachts Worte zu formen und sie tagsüber zu vergessen, weswegen er das Sprechen gänzlich aufgab. Er lernte Tiergesten – die Finger im Mund, Hand vor dem Gesicht, das Winken, um freundliche Absichten zu signalisieren. Mit der gelähmten Zunge waren seine Hände frei – frei, um den Kopf des Jungen zu streicheln, der von zu Hause weggelaufen war, damit er sich am Kampf beteiligen konnte, oder den Soldaten mit der ausgekugelten Schulter zu trösten, der die Stromschläge mehr als allesandere fürchtete. Und später lernte er, den eigenen Schmerz mit seinen Händen zu lindern. Mit wachsendem Bart und der Kraft seiner Hände brachte Joy die drei Monate im Bauch der Zelle sprachlos zu, fest entschlossen zu überleben, um zu sehen, was danach kommen würde.
    Die Langeweile der Soldaten wurde nur durch die immer gleichen Geräusche unterbrochen. Den Ruf zum Gebet. Das Spritzen von Wasser bei der rituellen Waschung. Das Entrollen der Gebetsmatten. Das Kreischen der Vögel, die während des gesamten Morgenrituals miteinander stritten. Der mit unbrauchbar gewordenen Fußsohlen vor das Erschießungskommando gezerrte Gefangene. Sein letztes Flehen um Gnade.
    Doch dieser Gefangene gab keinen Laut von sich. Nicht bei den Schlägen auf die Fußsohlen, auch nicht beim Ausdrücken von Zigaretten auf seinem Rücken oder den Stromschlägen in seinem Mund. Sie folterten ihn schlimmer als alle anderen, immer angetrieben von dem Verdacht, der Hoffnung, daß er etwas Besonderes preiszugeben hatte. Er mußte etwas wissen, und er mußte dazu ausgebildet worden sein, dieses Geheimnis nicht zu verraten. Und so warteten sie ab, brachten ihn jeden Tag in den Beinraum, in den Raum, in dem man an den Füßen aufgehängt wurde, zum Stuhl. Er weinte nicht, und er sprach nicht.
    Schließlich konnten die Folterknechte es nicht mehr aushalten. An einem besonders ereignislosen Tag nahmen sie Rache. Die erwarteten neuen Gefangenen waren nicht eingetroffen, übrig waren nur der Stumme und der Alte, der schon lange ausgetrocknet und eine Kugel nicht mehr wert war. Die Vögel siegten. Sangen, käckerten, krächzten. Aftab, der Jüngste im Regiment, feuerte einen Schuß in den Tamarindenbaum ab, so daß die Vögel aufflatterten, die Stimmen zu einem Riesengekreisch erhoben und sich dann auf den Fenstersimsen der Kaserne niederließen, wo sie die Essensreste und trockenen Brotkrumen pickten, die achtlos zwischen den Gitterstäben hinausgeworfen worden waren. Die anderen fluchten darüber, daß er auf denBaum geschossen hatte. So dumm kann ja nur ein Sindhi sein, nichts als Scheiße im Hirn.
    Sie zerrten Joy aus der Zelle. Aftab stieß ihn mit dem Gewehrkolben. »Bring die Scheißvögel zum Schweigen«, sagte er. »Das sind Bengalivögel, die hören auf dich.«
    Joy stand reglos da, um ihn herum das Vogelgeflatter wie Bettlaken im Wind.
    »Na los.« Der Schlag mit dem Kolben, ein

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