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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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hatte nicht den Mut, danach zu fragen. Marzia hat es mir dann in einer Nacht heimlich gebracht, und wir haben es uns bei Kerzenlicht angesehen.«
    »Und was hast du gedacht?«
    »Ich wünschte mir, ich hätte es nicht gesehen. Heiraten mußte ich ihn ja sowieso.«
    »Wäre es denn so schlimm, wenn ich nicht heiraten würde?«
    »Nein, so schlimm wäre das nicht. Guck mich an, ich habe den größten Teil meines Lebens ohne Mann verbracht.«
    »Männer können so schrecklich sein.« Sie dachte jetzt an Nazia, an ihr Baby, das mit Schlitzaugen und fremder Hautfarbe auf die Welt kam, an Saima und Chottu, an all die Grausamkeiten, die ihr zustoßen konnten, wenn sie sich bereit erklärte, jemanden zu heiraten.
    »Da hast du natürlich recht«, sagte Rehana, streckte langsam die Beine aus und ließ sich aufs Kissen sinken. »Aber wem willst du später mal von deinen Sorgen erzählen, mein kleines Mädchen?«
    »Ich weiß es nicht.« Maya suchte die Füße ihrer Mutter unterdem Laken und begann, sie zu massieren. »Ich mache es so wie du.«
    Rehana lächelte. »Mein Trost ist die Liebe meiner Tochter.«
    Da spürte es Maya auch, das tief in sich begrabene Bedürfnis nach Liebe. Durch die Chemotherapie war Rehanas Kreislauf sehr schwach geworden; sie hatte ständig kalte Füße, und Maya hörte sie befriedigt seufzen, als sie ihr mit der flachen Hand den Spann rieb. Draußen wurden alle Abendgeräusche vom Regen gedämpft. Die Grillen zirpten, doch die hohen Töne ihrer Rufe wurden vom fallenden Wasser geschluckt. Nur die Blätter drehten ihre Lautstärke auf und wollten sich mit dem Klatschen gegen die Regentropfen bemerkbar machen.
    Wie oft hatte Maya sich schon gesagt, daß sie nicht für das Eheleben gemacht war. Oder zur Mutter. Jeden Tag sah sie Kinder auf die Welt kommen, egoistisch und einsam und mächtig; sie sah, wie die Neuankömmlinge alles um sich herum verschlangen, bis ihre Kräfte dann allmählich nachließen, wenn sie herausfanden, daß die Welt wesentlich armseliger war, als sie auf den ersten Blick gewirkt hatte.
    Rehana schien auf einmal sehr müde geworden zu sein und schloß die Augen. »Sprich den Ayat al-kursi mit mir«, sagte sie.
    »In Ordnung.« Maya sagte sich zwar, daß sie es nur ihrer Mutter zuliebe machte, genau das, was sie sich auch bei jedem Besuch oben einredete, merkte aber, wieviel Erleichterung sie beim Beten durchströmte. Anfangs verhaspelte sie sich noch mit den arabischen Worten, doch dann waren sie ganz mühelos wieder da, zusammen mit den Erinnerungen an die Kindheit, an ihr Lieblingsessen, an die Butterblumen auf dem Rasen.

    Allahu la ilaha illa hua alhayyul al-qayyum.
    Allah – es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Lebendigen und Beständigen.
    La ta’ghudhuhu sinatu wa la naum
    Ihn überkommt weder Schlummer noch Schlaf.

    »Ich möchte gern, daß du betest, Maya. Wenigstens einmal am Tag, zum Maghrib.«
    Maya schüttelte den Kopf. »Du weißt, daß ich das nicht tun kann, Ma, das wäre unfair.«
    »Warum unfair?«
    »Unfair den Gläubigen gegenüber.« Die Tränen fielen heiß und weich auf ihre Wangen.
    »Gott ist größer als dein Glauben«, sagte Rehana. »Ich bitte dich darum, weil du vielleicht etwas brauchst, wenn ich einmal nicht mehr da bin.«
    »Bitte, Ma, sag so etwas nicht.«
    »Du tust immer so unabhängig. Du bist von zu Hause weggegangen, du hast dein eigenes Leben geführt. Du bist ein starkes Mädchen. Aber wer wird für dich dasein, wenn ich nicht mehr bin? Ich wünschte, du hättest etwas Eigenes. Das hätte auch dein Vater für dich gewollt.«
    Etwas Eigenes. Was könnte das sein? Ehe, Familie, Gott? Auf nichts davon war sie vorbereitet. Ihr wurde mit einemmal bewußt, daß Ammu die ganze Zeit die Einsamkeit ihrer Tochter als Last empfunden haben mußte. Sie hat mich und all meine Sorgen ganz allein mit sich herumgeschleppt. Vielleicht sollte sie ihrer Mutter sagen, daß sie beruhigt sterben könne, dachte Maya, daß sie etwas finden würde, was das hinterlassene Loch füllen würde. Doch sie konnte es nicht, sie war noch nicht soweit. »Laß uns noch ein bißchen zusammen beten, Ammu, wenn du dich dann besser fühlst.«
    »Ich bin müde, mein Schatz. Ich will jetzt schlafen.«
    Maya hielt Wache neben Ammu, lauschte auf ihren Atem, bereit, ihre Mutter zu schütteln, sollte er aussetzen, sollte Ammu irgendein Zeichen geben, daß sie dem nachgeben wollte, was auf ihrer Stirn geschrieben stand, ihrem Schicksal, oder dem Gefühl, daß ihre Aufgabe vollbracht

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