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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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»Nein, eigentlich nicht. Ich wüßte, wie man das alles machen würde – was man zu erwarten hat, meine ich, aber ich glaube nicht, daß ich zur Mutter bestimmt bin. Aber in meinem Beruf habe ich Gutes geleistet.« Sie winkte den Kellner herbei und bestellte zwei Tassen Tee.
    »Jedenfalls besser, als die durchgepinkelte Bettwäsche eines alten Mannes zu wechseln.«
    »Das ist eine würdevolle Arbeit. Du hast auf dem Weg zum Tod für ihn gesorgt, das ist eine sehr noble Aufgabe.«
    »Sohail glaubt wahrscheinlich, daß er genau dasselbe tut. Daß er den Leuten auf dem Weg in den Himmel hilft. Wahrscheinlich fühlt er sich dabei auch nobel.«
    »Wußtest du, daß ich nach oben gegangen bin und an den Talims teilgenommen habe, als Ammu krank war?«
    Er schaute sie skeptisch an. »Das überrascht mich.«
    »Es war – als ob es der einzige Platz auf der Welt wäre, wo ich die Hoffnung hatte, daß sie nicht sterben würde.«
    Joy streckte die Hand über den Tisch und strich mit seinen Knöcheln über ihre. Sie hielt immer noch die Teetasse mit beiden Händen fest, und er umfaßte ihr Handgelenk mit kräftigen Fingern. Sie merkte, wie ihr schon wieder die Tränen in die Augen traten. »Zwei Mal an einem Tag«, sagte sie und tupfte sich mit der freien Hand das Gesicht ab. »Man sollte meinen, ich würde ständig heulen.«
    »Nein, ich glaube, daß du fast nie heulst.«
    Da betrachtete sie ihn eingehender und merkte, daß eins seiner Augen ein bißchen größer war als das andere. Außerdem hatte er ein schiefes Lächeln. Als ob seine Mutter eine Seite seines Gesichts mehr geliebt hätte als die andere. Ich würde dein ganzes Gesicht lieben, dachte sie. Ich würde dein ganzes Gesicht lieben und deine neun und ein bißchen Finger. Sie ertappte sich dabei, daß sie auf seinen Mund starrte. Die letzten paar Wochen, Ammus Krankheit – sie war dabei, sich zu vergessen. Sie schluckte den Tee hastig hinunter. »Ich muß los«, sagte sie und stand völlig unvermittelt auf. Sie beharrte darauf, für sich selbst zu bezahlen. Und als er anbot, sie heimzufahren, lehnte sie ab, sprang in die nächste Rikscha und blickte erst zurück, als der Fahrer schon losgefahren war. Sie sah seinen Arm, als er ihr zum Abschied winkte, und seine verwundert hochgezogenen Augenbrauen.

    *

    Rehana war geheilt. Anders konnte man es nicht ausdrücken. Dr. Sattar sagte, die Chemotherapie habe angeschlagen, die Krebserkrankung sei im Rückgang. Rehana hatte das Zamzam getrunken, und der Krebs war geflohen, wie Vögel aus einemBaum, wenn ein Schuß abgefeuert wird. Sohail war der Schuß. Rehana war geheilt. Sie war im Garten und rupfte in den Sonnenblumen- und Dahlienbeeten Unkraut. Sie faßte zwischen die Blumen und riß die Kräuter mit einer schnellen Handbewegung aus, dann richtete sie sich auf und strich sich über den Bauch, ein wenig, als vermisse sie das, was da in ihr gewesen war.
    Maya ertappte sich oft dabei, daß sie Ammu anstarrte und sich fragte, wodurch sie, Maya, wohl diese zweite Chance bekam. Phasen ihres gemeinsamen Lebens traten ihr wieder vor Augen: Ammu, die in Dhaka zurückblieb, als sie und Sohail nach Lahore gingen; wieder ließen sie Ammu zurück, als beide in den Krieg zogen, und dann ging Maya aus Zorn über Sohail weg, aber Ammu blieb wieder allein. Immer war Maya weggegangen. Sie befahl sich, an die Male zu denken, die sie zu Ammu nach Hause zurückgekehrt war. Ein Tag fiel ihr ein, direkt nach Kriegsende, an dem sie Ammu im Schlafzimmer fand, wo sie ihr Bett entzweisägte.
    Es war der Tag nach der Kapitulation der pakistanischen Armee, und Ammu hielt eine Säge in der einen Hand, mit der anderen stützte sie sich auf dem Bett ab. Sie hatte das lose Sari-Ende in der Taille festgesteckt, die Haare zu einem Knoten zusammengebunden und sägte aus Leibeskräften.
    Maya fragte ihre Mutter, was sie da tue, aber sie gab keine Antwort, sondern ächzte und sägte nur, als ob ihr Leben davon abhinge. Die Straßen waren voll feiernder Menschen, und Maya wollte gerade rausgehen und mitmachen. Aus dem Fenster eines Nachbarn plärrte das Radio, weiter weg war Geschrei und Feuerwerk zu hören. Maya stand da, sah zu und hätte ihre Mutter gern sich selbst und der verrückten Zerstörungswut überlassen, die sie scheinbar überkommen hatte, und draußen mitgefeiert.
    Das Fußende hatte Rehana bereits durchgesägt, jetzt war sie dabei, sich durch das Bodenbrett zu arbeiten. Das Holz war da dünner, aber man kam nur schlecht dran. Jetzt

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