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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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ausdrückte? In beklemmender Deutlichkeit trat die Erinnerung Maya wieder vor Augen. Sie zwang sich, an den Augenblick in der Klinik zurückzudenken, den verzweifelten Ausdruck in Piyas Augen, als sie um den Abbruch bat. Mach das schlimme Ding weg. Maya schüttelte den Kopf, weil sie die Erinnerung abzuschütteln versuchte, doch bevor sie wußte, wie ihr geschah, bebten ihre Schultern, und ihre Wangen brannten von Tränen. Sie dachte an ihre Mutter im Krankenhaus, als sie glaubte, daß sie sterben würde, und Piya, die sich hilfesuchend an sie gewandt hatte und keine Hilfe bekommen hatte.
    Die Versammlung wurde aufgelöst, die Leute erhoben sichund umringten Jahanara Imam. Maya saß wie angewurzelt da, während ihr das Wasser nur so aus der Nase lief. Sie versuchte, sich das Gesicht mit dem Handrücken trocken zu wischen. »Na komm«, sagte Joy. »Ich bringe dich nach Hause.«
    Sie wollte nicht nach Hause. Er führte sie zum Auto und raste los. Maya wischte sich mit dem Sari durchs Gesicht, bis ihre Wangen ganz rauh waren. Joy bog in die Elephant Road ein und parkte vor einem zweistöckigen Gebäude. »Wärst du einverstanden, eine Tasse Tee mit mir zu trinken?«
    Im Obergeschoß war ein Café, durch dessen große Scheiben man hinunter auf die Schuhgeschäfte in der Elephant Road blicken konnte. Sie saßen einander in einer Sitznische aus grünem Leder gegenüber. Lange sagte keiner von beiden etwas. Joy ließ ihr Zeit, aus dem Fenster zu blicken und sich mit den Händen übers Gesicht zu streichen, bis sie sicher sein konnte, daß keine Tränen mehr kommen würden. Dann fixierte er sie mit einem ironischen Lächeln.
    »Da ich dich nun hier habe«, sagte er, »kannst du vielleicht endlich mal meine Neugier befriedigen.«
    »Kommt gar nicht in Frage«, erwiderte sie im gleichen scherzhaften Tonfall. Erleichtert, daß sie mit Joy hier saß und die Gefühlswellen sich langsam legten, studierte sie die Speisekarte. »Von mir erfährst du gar nichts.« Unhörbar kämpften sich unter ihnen Autos und Fahrradrikschas durch die Elephant Road. »Nicht, bis du mir alles über deine amerikanische Frau erzählt hast.«
    »Von mir aus. Ich beantworte alle deine Fragen – alle, und dann beantwortest du eine von meinen. Nur eine einzige. Abgemacht?«
    »Was ist das denn?« Sie zeigte auf etwas auf der Karte.
    »Das soll Cheeseburger heißen. Hast du so was schon mal gegessen? Das ist so ähnlich wie ein Keema-Sandwich, schmeckt allerdings nicht nach schrecklich viel – aber ich kann fragen, ob sie dir ein paar Chilis drauftun können.«
    »Na schön, mit Chilis. Aber ohne Käse.«
    »Was, magst du keinen Käse?«
    »Davon kriege ich Blähungen.«
    Er lachte.
    »Was?«
    »Mir scheint, du hast in der Schule gefehlt, als ihr gelernt habt, wie man mit Jungs redet.«
    »Ich bin Ärztin«, sagte sie etwas aufgebracht, »Körperfunktionen können mich nicht aus der Fassung bringen. Auf was für eine Schule bist du denn gegangen? Bei uns hat man nichts Praktisches fürs Leben gelernt.«
    »Ich bin auf dieselbe Schule gegangen wie dein Bruder. St. Gregory. Die Jesuiten haben uns alles beigebracht, was wir über Mädchen wissen mußten.«
    Der Kellner kam und nahm ihre Bestellung auf. Joy war ausgesprochen höflich zu dem Mann, nannte ihn Bhai und bedankte sich, als er aufgeschrieben hatte, was sie wollten. »Was trinkst du?«
    »Limonade.«
    »Die ist aber sehr sauer. Willst du das Risiko wirklich eingehen?«
    »Komm, sei still.«
    »So«, sagte er und legte die Hände flach auf den Tisch, »was willst du wissen?«
    »Über deine Frauen.«
    »Es gab nur eine.«
    »Wirklich? Ich habe Gerüchte gehört.«
    »Die Leute versuchen ständig, mich zu verkuppeln – du weißt schon, der arme, verkrüppelte Freiheitskämpfer, der braucht eine Frau.«
    »Vielleicht kriegen sie dich ja noch rum.«
    »Vielleicht. Du willst wissen, wie das mit Cheryl war. Aber bevor ich dir die Geschichte erzähle, solltest du vielleicht von den ganzen schockierenden Jobs hören, die ich gemacht habe, als ich in New York war. Nur damit das vom Tisch ist – die ungeschminkte Wahrheit. Ein Jahr lang habe ich Teller gewaschen.Ich bin Taxi gefahren, das weißt du ja schon. Eine Weile habe ich Hotelzimmer geputzt, dann habe ich ganz auf Putzmann umgesattelt. Bei reichen Leuten, Park Avenue, du kannst es dir nicht vorstellen. In Büros auch. In den Büros habe ich eine Menge gesehen, im Dunkeln und so weiter. Aber mein letzter Job war bei einem alten Mann. Er lag im

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