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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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Hände an den Jeans ab, »wenn es Ihnen wirklich wichtig ist, dann geh ich jetzt zu ihm rein und zuckere es ihm an, ja? Bitte gucken Sie nicht so traurig, Liebes, Sie kriegen Ihren Artikel schon. Ich stecke ihm ein schönes Kalo-Jaam in den Mund, da wird er nicht widerstehen können.«
    Maya blickte Aditi nach, die mit der Bonbonschachtel inden anderen Raum segelte, und merkte, daß es im Grunde nur darum ging: Die Süßigkeiten, die angebliche Anteilnahme für Maya, der Artikel – alles nur ein Vorwand, um mit Shafaat zu flirten und auf diese Weise ihre Wünsche durchzusetzen. Maya wollte nicht, daß Shafaat irgend etwas angezuckert wurde. Es kam ihr auf einmal alles so erbärmlich vor, die fensterlosen Büroräume, der abgestandene Zigarettenrauch, der Gestank der benachbarten Gerbereien. Sie dachte an die Zeiten zurück, in denen sie und Sohail über Leute wie Aditi und Shafaat gelästert hatten: Daß sie zwar die richtigen Ideen hatten, ihnen aber etwas Wesentliches fehlte, der moralische Kern sozusagen. Sie dachte an ihre Gespräche, bei denen sie bis tief in die Nacht, bis Sohail mit den Händen in den Hosentaschen eingeschlafen und sein Kopf nach hinten gesackt war, diskutiert hatten. Die Sehnsucht nach ihm tat weh wie ein stechender Schmerz.

    Maya stellte sich oft den letzten Tag vor, an dem Sohail Hosen getragen hatte. Sie war nicht dabeigewesen, doch es mußte einen letzten Tag gegeben haben, einen Tag, an dem er morgens aufgewacht war, sich die Zähne geputzt, das Hemd zugeknöpft und die Füße durch die Hosenbeine geschoben hatte. Vielleicht waren es ja sogar seine geliebten Jeans, Erbstück von einem Freund mit Verwandten in Amerika, an die er mit einer Mischung aus Betteln und Bestechung herangekommen war, genau wie an seine Elvis-LPs und seine abgegriffene Ausgabe von Lady Chatterleys Liebhaber .
    Den ganzen Tag mußte ihr Bruder herumgelaufen sein und diese Hose an seinen Beinen gespürt haben. Er hatte sich in eine Rikscha gesetzt, Baumstämme gestreift und Sachen in die Hosentaschen gesteckt. Doch irgendwann an diesem letzten Tag muß er beschlossen haben, daß es Zeit war, sich zu häuten und die alte Haut abzustreifen. Zeit, die bisherige Mode abzulegen und eine noch wesentlich ältere zu übernehmen.
    Hatte er das vorhergesehen? Hatte er es im vorhinein gewußt und diese letzten Augenblicke genossen? Wie schick er immerauf dem Universitätscampus ausgesehen hatte, die bewundernden Blicke seiner Kommilitonen, die verstohlenen Blicke der Frauen.
    Maya glaubte es nicht. Er wußte vermutlich sowenig wie alle anderen, was ihm an diesem Tag durch den Kopf gegangen war. Er hatte es sicher nicht geplant. Es war ihm vermutlich urplötzlich eingefallen, wie eine Offenbarung: Daß er sich wie die Strenggläubigen kleiden sollte, daß seine äußere Erscheinung zu den Veränderungen in seinem Inneren passen sollte, daß es nicht mehr anging, wie alle anderen auszusehen, auszusehen, als würde er zu Partys gehen und hinter einem Schreibtisch sitzen und modern sein.
    An jenem Tag hatte er sich vermutlich entschieden, und dieser Tag war der letzte gewesen. Er hielt sich nicht lange mit seinen Hosen auf, wollte auch keine letzten paar Stunden, um sie noch einmal richtig zu genießen. Sobald er sich entschieden hatte, hatte sich die Sache erledigt.
    Und danach: Eine gestärkte, weiße Djellaba, darunter eine lose Pluderhose, am Ausschnitt Perlmuttknöpfe. Und auf dem Kopf wie eine immerwährend segnende Hand die Gebetskappe, die nie abgelegt wurde. Und das trug er jeden Tag nach dem letzten Tag in Jeans.

    Es stand nicht zur Debatte, beschloß Maya. Wenn Shafaat sie den Artikel nicht schreiben ließ, dann würde sie ihn eben an eine andere Zeitung schicken. Sie würde ihn an den Observer schicken. Sie ging nach Hause und fing an zu tippen.

    Ich heiße S. M. Haque, und ich möchte Ihnen ein paar Wahrheiten über den Krieg mitteilen. Jeder von uns trägt Verantwortung – weil wir in einem Land leben, das mittlerweile zu dem geworden ist, wogegen wir gekämpft haben: eine Diktatur unter einem Mann, der nichts für dieses Land tut und sich weigert, die Verbrecher beim Namen zu nennen, die unter uns leben. Wenn wir dabeistehen und zulassen, daß die Verbrechen der Vergangenheitungesühnt bleiben, dann sind wir Komplizen dieser Verbrechen. Wenn der Diktator die Kriegsverbrecher nicht vor Gericht stellt, ist er ebenfalls ein Kriegsverbrecher.

    Sie unterschrieb es mit »Sheherezade Haque Maya.«

1985
Februar
    Der

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